Vom Kinderglück in der Königsheide, Teil 1

Zur Eröffnung des größten Kinderheims der DDR vor 60 Jahren
Kinderheim Makarenko
Foto aus dem Archiv des Autors
„Zur Hinterlassenschaft des Hitlerkrieges gehörten auch 400 Kinder, deren Eltern umgekommen waren und die zwischen den Trümmern Berlins … hausten … Der Magistrat von Groß-Berlin entschloß sich zu einem Erziehungswerk, das die Kinder für den Aufbau unserer Republik begeistern und das als ein Beispiel dastehen sollte für das fürsorgliche Verhältnis unseres Staates zu seiner Jugend.“ Es wurden „12 Hektar Wald … von der im Stadtgebiet Johannisthal gelegenen Königsheide abgetrennt und dort die zweistöckigen Wohnhäuser, die Schule, ein Säuglingshaus, Krankenstationen und ein Wirtschaftsgebäude mit dem Speise- und Festsaal errichtet.“

Stolz verkündet dies eine zwölfseitige Broschüre: „Kinderglück“ im Jahre 1962. Der Ort: Berlin, Hauptstadt der DDR, die Königsheide im heutigen Stadtbezirk Treptow-Köpenick ein Waldgebiet, mehr als 100 aneinandergelegte Fußballfelder groß, zwischen den Ortsteilen Baumschulenweg im Norden und Johannisthal im Süden gelegen, darin nun eine Stadt für 600 Kinder.

Die Zusammenkunft zwischen dem Schwedenkönig Gustav Adolf mit dem brandenburgischen Kurfürsten Georg Wilhelm im Mai 1631 gab dem Areal einst den Namen. Während des Dreißigjährigen Kriegs trafen sich die beiden Fürsten auf halbem Wege zwischen Berlin und Köpenick, handelten um die vom Schwedenkönig bedrohte Stadt Magdeburg. Ein geschichtsträchtiger Ort. Ein Ort, an dem Politik gemacht wurde – auch vor 60 Jahren noch. Dort, in der Südostallee 134, wenige Minuten vom S-Bahnhof Schöneweide entfernt, legte der stellvertretende Oberbürgermeister von Ost-Berlin, Herbert Fechner, am 30.05.1952 den Grundstein für das neue Hauptkinderheim von Berlin. Mehr als ein symbolischer Akt. Denn Erziehung war Bestandteil und Programm der Politik – in der DDR. Im „Gesetz über das einheitliche sozialistische Bildungssystem“ hieß es später: „Die Schüler, Lehrlinge und Studenten sind zur Liebe zur Deutschen Demokratischen Republik und zum Stolz auf die Errungenschaften des Sozialismus zu erziehen, um bereit zu sein, alle Kräfte der Gesellschaft zur Verfügung zu stellen, den sozialistischen Staat zu stärken und zu verteidigen.“

Ein Teil dieses Systems waren die 474 staatlichen Kinderheime der DDR. Als solche konzipiert, waren sie jedoch keine ausschließlichen Sozialeinrichtungen, in der Hauptsache vielmehr auf die "Umerziehung fehlentwickelter junger Menschen" ausgerichtet. Anton Semjonowitsch Makarenko (1888–1939) – ab 1968 der Namensgeber für das Ost-Berliner Prestigeprojekt – war Programm: „Was du nicht weißt – lernst du! Wenn du lernst – helfen wir! Wenn du nicht willst – zwingen wir dich", lautete die Devise des sowjet-russischen Pädagogen.
Makarenko war Kollektiverzieher. Und er war Praktiker. Während seine Vorgänger wie Rousseau, Pestalozzi oder Rudolf Steiner ihre Theorien vorrangig in Studierstuben entwickelten, leitete Makarenko höchstselbst ein Heim für jugendliche Straftäter. Mit der Autorität des Erziehers, Respekt vor dem Kind, absoluter Aufrichtigkeit gegenüber den Zöglingen und dem festen Vertrauen in den Menschen sollte ein neuer, ein sozialistischer Mensch erschaffen werden. So die Theorie. In der Kinderstadt in der Königsheide sollten Erzieher und Lehrer, Kindergärtnerinnen und Fachkräfte, Säuglings- und Krankenpflegerinnen, Musikpädagogen, Gymnastiklehrer und Sprachheilkundige, auch Näherinnen und Gärtner, eine mehr als hundertköpfige Belegschaft, ihm nacheifern.

Die ersten Kinder zogen in der zweiten Oktoberwoche des Jahres 1953 ein. Sie kamen aus Heimen in Siethen bei Ludwigsfelde und Heiligenstadt im Eichsfeld, aus Berlin und Umgebung. 134 an der Zahl waren es damals. Waisenkinder und Kinder aus „schwierigen elterlichen Verhältnissen“, auch solche, die ihren Eltern aus politischen Gründen entzogen wurden, unter ihnen.

Kontakte zu den Eltern waren den Kindern des Kinderheims nicht immer erlaubt.

Auch nach der Entlassung gab es manches Mal nur wenige Auskünfte zu Vater und Mutter. Denn im Makarenko sollten „sozialistische Persönlichkeiten " erzogen werden – mit Stubenappell und Ausgangsverbot, wenn es nötig war.

Gegengesteuert wurde allenthalben. Man ließ sich das „Makarenko“ etwas kosten: Zehn Millionen DDR-Mark für den Bau der Anlage und ihrer Einrichtung, die jährlichen Unterhaltskosten beliefen sich in den 1960er Jahren auf 3,4 Millionen DDR-Mark. Zum Vergleich: 1960 verdiente der Bürger Ost durchschnittlich 444,00 Mark, bezahlte für eine Monatskarte von Berlin-Treptow nach Berlin-Mitte mit Bus, S-Bahn, Straßenbahn und U-Bahn 5,00 Mark und bekam seine Schrippe für 5 Pfennige, sein halbes Bäckerbrot für 0,55 M.

Über die vier Jahrzehnte der DDR-Geschichte lebten bis zu schätzungsweise 6.000 Kinder und Jugendliche, vom Baby bis zum volljährig Gewordenen, in der Königsheide. Das größte Kinderheim der DDR, das zweitgrößte Europas – es war auch Vorzeigeort: In der Kinderstadt, wo Krippe, Kindergarten, Schule, moderne Wohngemeinschaften, Spiel- und Freizeitanlagen den ansehnlichen Rahmen für glückliche Kinder geben sollten, gaben sich Staatsbesucher und Pädagogen anderer Länder die Besucherklinke in die Hand. Zur vorbildlichen Erziehung brachten namhafte Politiker und Künstler der DDR sogar ihrer eigenen Kinder in das „Heimkombinat A. S. Makarenko.“

Durch ein schmiedeeisernes Tor an der Südostallee, von dem zwei Eichhörnchen grüßen, traten sie ein. Dahinter eine breite Allee, zu beiden Seiten mit zweigeschossigen, großzügig anmutenden Wohnhäusern flankiert. Die sog. Heimstraße führt noch heute zu auf einen prächtigen, am Portal von Säulen getragenen und mit einer großen Treppe einladenden Bau – unverkennbar Neoklassizismus der Stalinära, die ehemalige Schule.

Das Wachregiment „Feliks Dzierzynski“ war die Patenbrigade für das Kinderheim; das große Kletterschiff unter Kiefern, hinten im Wald, im Mastbaum junge Welteroberer; Tiefseeforscher im Planschbecken gleich nebenan – es sind die Erinnerungsorte, vielgestaltig, schemenhaft. Kindheitsträume derer, die hier waren. Im Guten wie im Bösen. Wie das „Weinen in der Dunkelheit“ – eine Erfahrung, die Ursula Burkowski mit einigen, die einmal dort lebten, teilt. Dieses Leben ist Erinnerung geworden. Oder Literatur. Ursula Burkowski hat aufgeschrieben, was ihr geblieben ist; andere Ehemalige haben einen Verein gegründet: Der Königsheider Eichhörnchen e.V. hat sich im Jahr 2008 der verwaisten Eichhörnchen am Eingangstor und vor allem der Suchenden angenommen, die neben der Aufarbeitung ihrer DDR-Heimwirklichkeit vor allem Antworten auf die schwierigen Fragen nach dem Wie und Warum ihrer teilweise verworrenen Lebenswege suchen. „Manchmal ist es einfacher, politische Debatten zu führen, als Menschen zuzuhören“, sagt die Vorstandsvorsitzende des Vereins, Sabrina Knüppel. Die denen sie zuhört, sind dankbar, andere an ihren Erinnerungen teilhaben zu lassen – auch wenn es oft weh tut. „Man kann, was geschehen ist, nicht ändern“, sagt Sabrina Knüppel, „aber man kann versuchen, den Blick aus der Vergangenheit in die Gegenwart zu wenden.“ Denn „der Mensch kann auf Erden nicht leben, wenn er nichts Freudiges vor sich sieht“ – das wusste Makarenko schon.


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