Ich werde überwacht

Der Vorsitzende des BER-Untersuchungsausschusses Martin Delius
Erstveröffentlichung am 05.09.2013
Martin Delius ist als Vorsitzender des BER-Untersuchungsausschusses einer der profiliertesten Politiker der Piratenpartei. (Heute Linke, Anm. der Redaktion) Der 29jährige Softwareentwickler ist Fraktionssprecher für Bildungsbelange und Mitglied im Präsidium des Berliner Abgeordnetenhauses.
delius Haben Sie eigentlich vor gar nichts Angst? Nur, wenn es einen Grund gibt, Angst zu haben. Wie würden Sie einen Politiker nennen, der ernsthaft einen neuen Standort für den Flughafen BER fordert? Das ist einfach: Martin Delius. Aber eigentlich nur Martin, da ich die Person schon ein wenig länger kenne. Sie haben bislang als einziger Berliner Politiker den Mumm, die Standortfrage zu stellen. Wissen Sie Ihre Piraten hinter sich und werben Sie bei anderen offensiv für Ihren Standpunkt? Die Position haben die Berliner Piraten auf meine Initiative hin online abgestimmt. Wir ziehen da an einem Strang. Was ich mache, um das zu bewerben? Immer und immer wieder erzählen, was wir vertreten, egal ob jemand das hören will oder ich dafür „Hohn und Spott“ ernte. Das nennt sich politische Haltung. Wird der BER jemals eröffnet? Ich denke schon. Zu viele haben sich mit dem Projekt zu tief politisch und finanziell verschuldet. Sicher ist das allerdings nicht. Vieles ist schief gelaufen. Wer hat Schuld am BERDesaster? Glaubt man den Verantwortlichen: Keiner. Glaubt man mir: Die Verantwortlichen. Das sagt schon das Wort. Allerdings ist das Thema viel zu komplex, viel zu grotesk und die Fehler und Probleme viel zu vielschichtig, als dass ein Einzelner Schuld sein kann. Nicht einmal Klaus Wowereit. Verantwortlich ist er aber schon.
Zu viele haben sich mit dem Projekt zu tief politisch und finanziell verschuldet.
Werden die Ergebnisse aus dem Untersuchungsausschuss je Konsequenzen haben? Die erste Konsequenz wird ein langer Abschlussbericht sein. Mit den dort festgehaltenen Ergebnissen besteht zum Beispiel die Möglichkeit, weitere Klagen gegen unrechtmäßige Praktiken der Flughafengesellschaft zu führen. Wir werden natürlich versuchen, auch mit Empfehlungen an die Parlamente zu arbeiten. Ob die umgesetzt werden können, wird aber von den politischen Mehrheiten abhängen. Hat die Arbeit im Untersuchungsausschuss bei Ihnen zu einer Neubewertung geführt? Im Grunde nicht. Wie schon am Anfang steht die Frage im Raum, ob der Flughafen überhaupt eröffnet werden kann. Darüber hinaus haben sich die Vermutungen und Befürchtungen, die ich vorher schon hegte, im Großen und Ganzen bestätigt und verfestigt. An sich ein Zeichen dafür, wie schlimm es um das Projekt steht. Die Piraten sind die einzige vom BER nicht kontaminierte Partei. Haben Sie jenseits dieser strategischen Sonderheit ein eigenes zukunftsfähiges Verkehrskonzept für Deutschland? Ein schlüssiges Konzept kann eine Partei meiner Meinung nach allein gar nicht liefern. Notwendige Informationen, Zahlen und Strukturen sind einfach nicht öffentlich. Darüber hinaus setzen wir auf möglichst breit gefächerte Angebote für öffentlichen Nah- und Fernverkehr, den wir als Daseinsvorsorge betrachten, um Anreize weg vom umweltschädlichen und unwirtschaftlichen Individualverkehr zu bieten. Wir scheuen dabei auch nicht vor neuen Technologien, wie dem Transrapid, zurück. In Deutschland machen die Bürger immer öfter die Erfahrung, dass bürokratische Strukturen tatsächliche demokratische Prozesse verhindern. Ist der mündige Bürger längst eine Gefahr für die Demokratie? Erkennt der Beamtenstaat zu Recht im Bürger seinen natürlichen Feind? Die Macht der Verwaltungen ist die Schwäche der regierenden Parteien. In Deutschland wird nur noch selten regiert. Länder, Kommunen und der Bund werden fast ausschließlich verwaltet. Starke demokratische Kräfte innerhalb und außerhalb der Parlamente steuern und gestalten? Das widerstrebt vielen Menschen in den Amtsstuben, ist aber unbedingt nötig, um als Gesellschaft weiter erfolgreich zu sein. Die engagierte Bürgerschaft und Politik ist das notwendige Korrektiv für die Riege der Beamtinnen und Beamten. Sie ist notwendig, damit Verwaltung vernünftig arbeiten kann. Leider haben das viele Verwaltungen noch nicht verstanden.
In Deutschland wird nur noch selten regiert.
Der Berliner Innenstaatssekretär Krömer hat eingeräumt, dass Bürgerinitiativen mit Zivilfahndern überwacht werden. Die Berliner Polizei hat dem vehement widersprochen. Ist es möglich, dass beide Recht haben? Achtung! Immer auf die Wortwahl achten. Der Polizeisprecher hat eine Beobachtung von BER-Kritisierenden nicht geleugnet. Klar ist, dass Ermittler_innen in Zivil eingesetzt werden. Unklar ist wann, in welchem Umfang und ob dabei die Veranstalter_innen auf Seiten der Bürgerinitiativen informiert wurden. Das ist an sich schon schlimm genug. Sehen auch Sie einen Unterschied zwischen einem totalen Überwachungsstaat und einem total demokratischen Überwachungsstaat? Ein Überwachungsstaat ist ein Überwachungsstaat ist ein Überwachungsstaat. In Berlin, Brandenburg, Sachsen, Thüringen oder Schleswig-Holstein zum Beispiel haben wir im letzten Jahr von unzähligen Fällen von ungerechtfertigten Funkzellenabfragen erfahren. Wenn Millionen von unschuldigen Menschen wegen Nichtigkeiten ausgespäht werden, ist das der langsame aber sichere Tod der Demokratie. Besonders zynisch: Der Staat behauptet oft solche übertriebenen Maßnahmen zum Schutz eben dieser Demokratie durchzuführen. Eine gefährliche Lüge. Fühlen Sie sich überwacht? Haben Sie Ihr eigenes Kommunikationsverhalten nach Edward Snowdens Enthüllungen verändert? Ich werde überwacht. Das ist mir seit den Anti-Nazi-Demos meiner Jugend in Halbe klar. Ich weigere mich jedoch, mein Kommunikationsverhalten zu ändern. Man muss sich bewusst machen, was man wann und mit wem kommuniziert. Das heißt aber nicht, dass man sich jetzt zurückziehen darf. Dann haben die Überwachungsbehörden gewonnen. Noch haben wir die Chance, unsere Meinung öffentlich und laut zu äußern. Dieses Recht müssen wir uns immer wieder erarbeiten. Schweigen wir, verlieren wir dieses Privileg und antidemokratische Kräfte gewinnen.
Unser Weg heißt hier ganz klar: Bedingungsloses Grundeinkommen für alle Menschen ab Geburt.
Im Zeichen der globalen Systemkrise fordern die Rebellen von einst einen Veggie Day. Welche Schwerpunkte setzen die Piraten? Für die Piraten ist Europa der Mittelpunkt der Auseinandersetzung. Ohne ein starkes solidarisches Europa kann Deutschland nicht überleben und wachsen. Wir brauchen einen gemeinsamen Kommunikationsraum und grundlegende demokratische Reformen, damit die Menschen sich direkt an der EU beteiligen können. Das Alleinstellungsmerkmal Europas in der Welt ist der Sozialstaat. Den müssen wir stärken und es schaffen, dass Menschen keine Angst mehr vor sozialen Sicherungssystemen haben müssen, wie das in Deutschland der Fall ist. Unser Weg heißt hier ganz klar: Bedingungsloses Grundeinkommen für alle Menschen ab Geburt. Welche gesellschaftlichen Impulse erwarten Sie vom bedingungslosen Grundeinkommen? Ohne einen kompletten Umbau des aufgeblähten deutschen Steuer- und Sozialsystems ist bedingungsloses Grundeinkommen nicht denkbar. Die unmittelbaren Effekte wären unter anderem ein Wegfall eines Großteils der Lohnnebenkosten, extremes Wachstum im Bereich ehrenamtlicher Tätigkeit und eine rasante Modernisierung unserer Industrielandschaft. Langfristig erwarten wir durch das bedingungslose Grundeinkommen eine solidarischere Gesellschaft, in der Existenzängste der Vergangenheit angehören. Nachdem die Piraten die Parlamente im Handstreich geentert haben, war dann oftmals nur von personellen Querelen zu hören. Wie beschreiben Sie den aktuellen Zustand Ihrer Partei? Wir sind immer noch eine Partei am Ende ihrer Pubertät. Wir sind schnell, innovativ und haben keinen Respekt vor etablierten Strukturen. Inzwischen sieht man aber auch, dass wir erwachsen werden. Wir haben uns klar gegen rechte Ideologien gestellt und unsere solidarischen und sozialen Werte gefestigt. Wir entwickeln Instrumente, um Konfl ikte zwischen unseren ehrenamtlichen Mitglieder_innen zu klären. Gleichzeitig werden wir auch weiter so offene Strukturen pflegen, dass es sicher nicht langweilig wird um die internen Diskussionen.
Ich könnte nicht mehr ohne Politik. Soviel ist klar.
Stimmt es, dass Politik eine Droge sein kann? Politik macht Spaß. Für die meisten Politiker_innen ist die Politik fester Teil ihres Lebens. Ich könnte nicht mehr ohne Politik. Soviel ist klar. Was interessiert Sie jenseits Ihres politischen Alltags? Ich bin technik-, philosophie- und musikbegeistert. Ich versuche, so viel Zeit wie möglich mit meiner Familie und meinen Freunden zu verbringen und übe mich im kreativen Schreiben.

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