Neulich mal wieder am Hauptbahnhof

Der Fluch der Vergangenheit

Wenn alles blüht und grünt, wenn die Tage wieder länger und die Nächte kürzer werden, dann erwacht auch Berlin aus seinem Winterschlaf. Die Menschen krabbeln aus ihren Löchern, die Cafés und Kneipen bestuhlen und beschirmen ihre Terrassen, damit Touris und Zugezogene unter freiem Himmel ihre von den Entdeckungen und Bummeleien geplagten Glieder bei einer Tasse Kaffee, einem Glas Wein oder Bier ruhen lassen können. Glas 0,5 für 'nen Fünfer, das sind 10 DM oder fuffzig Ost. Stolzer Preis, nicht meine Liga. Dass ich nicht unter den trinkend Verschnaufenden bin, das frustet. Und nun mag ein Jeder, der ebenso wie ich zu arbeiten hat, während alles grünt und blüht und der Wohlhabende sich labt, wohl verstehen, warum mir der Wechsel der vier Jahreszeiten zu 75% der Woche am Allerwertesten vorbei zieht. Tja, hättest Du mal besser aufgepasst in der Schule. Mit dieser Vorgeschichte trete ich neulich meine Schicht an, nicht übermäßig gut gelaunt, aber irgendwie in dieser „Ist doch sowieso alles egal“-Stimmung. Nach einer himmlisch belanglosen Fahrt in die Mitte von Berlin lasse ich mich von gepflegtem Übereifer verführen und stelle mich am Hauptbahnhof an. Das bedeutet in der Regel, eine Stunde zu warten, um dann für eine 10 Euro- Fahrt dem kalten Diesel die Sporen zu geben, bis die Grünen auch das verbieten. 10€, das sind 20 DM oder 100 Ost, die entsprachen damals ca. 200 halben Litern Bier. Erst einmal haben und ein Stücke weg sein. Aber erstens kommt es anders und zweitens wie man denkt, so singt es mein Freund Dirk Friedrich.
Glas 0,5 für nen Fünfer. Das sind 10 DM oder fuffzig Ost.
Als ich nach einer gefühlten Ewigkeit endlich an der Ladeleiste stehe, da kommt ein etwas dicklicher Mann in einem Anzug, mit fürchterlich am Bauch spannendem Jackett, der ungefähr in meinem Alter sein muss, also der Mann und nicht der Anzug, und sagt: Nach Potsdam. Während ich, befriedet von der Gewissheit einer anständigen Tour, das Gepäck von Dickie Dickmann im Kofferraum verstaue, da mustert mich dieser eindringlich. Wir sind gerade in der Lüneburger Straße, da legt der Mann im Fond los: „Kennen wir uns nicht?“ Ich ziehe die Schultern auf und nieder und sage, dass ich nicht wüsste, woher. Er bleibt dran und sagt: „8. POS in Pankow, kennst du mich noch, ich bin Frank Behrmann, wir waren in derselben Klasse. Du bist Matthias Schleich.“ Ich verneine, „komme aus Köpenick, nie in Pankow gewesen.“ „Na klar, Matze, red' nicht, du warst doch mit Simone Böttcher zusammen, naja, die hat's doch mit jedem gemacht.“ Sprach's und beharrt hartnäckig, mich aus der Schule zu kennen, obwohl ich das vehement verneine. Wir sind schon am Adenauerplatz, da reicht es mir und ich stimme zu. Er ist befriedigt und schwärmt. „Mann, weißte noch, die olle Müllern mit ihren Riesenzähnen, die aussah wie Frau Holle, ja, die war damals schon alt und ist wohl immer noch Lehrerin. Und erst die kleine Liersch mit dem süßen Arsch – Mann, was habe ich gewichst, wenn ich an die dachte. Heute würde die sich alle zehn Finger lecken, um mit mir zusammen zu sein. Tja, Erfolg macht sexy.“ Mir ist mittlerweile die Rolle des Zustimmers zuteil geworden und ich nicke immer oder sage: „Jaja, natürlich.“ Was soll ich auch tun. „Und Du?“ fragt er, „du warst doch immer so ein Streber? Mehr als Taxifahren hast Du nicht zustande gebracht, Mensch, wenn ich mich dagegen sehe, heutzutage hat man ja alle Möglichkeiten …“, grinst der Feistling. Es sind noch 20 Minuten bis Potsdam. Er hat kein wirkliches Interesse an meinen Ausführungen und ich genieße neben dem Blick auf die Straße die Aussicht auf die A115. Wir verlassen die AVUS und er scheint fertig zu sein mit Ausführungen. Ich habe irgendwie keinen Bock, den Rest der Fahrt schweigend mit diesem Dickmops in der Karre zu sitzen und so frage ich mal, wie es ihm ergangen sei. „Tja, Lehre, dann drei Jahre Armee, Ingenieurschule Dessau, dann ab in den Westen. Tja, wir Ossis, wir sind ja nicht doof und die im Westen kochen auch bloß mit Wasser.“ „Und jetzt?“ frage ich. „Na, darf ich eigentlich gar nicht drüber sprechen“, sagt er. „Streng geheim, ,top secret, sozusagen, du verstehst. Die delikaten Angelegenheiten, internationaler Handel, komme sehr viel rum, insbesondere Krisengebiete, die brauchen da doch gute Leute. Rüstungssachen, die ganz großen Dinger halt, dir kann ich's ja sagen.“ Ich verspüre große Lust, diesem Klops mal die Meinung zu geigen, aber was soll's, er würde mir eh nicht zuhören und so erwarte ich das Ende dieser lukrativen Fahrt geduldig und doch voller Ungeduld. Endlich sind wir bei ihm in Potsdam angekommen und er ist redlich begeistert, von sich selbst und darüber, mich getroffen zu haben. Er fragt nach meiner Nummer, die ich ihm bereitwillig auf einen Zettel kliere. 0190 3mal die 98 steht da jetzt und ich hoffe, das der Kerl sich wenigstens bei der nächsten Telefonrechnung mal ein paar Fragen stellt.

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