Sicher sind nur die falschen Versprechungen

Der Terror hat die deutsche Hauptstadt erreicht
Spätestens seit dem 19. Dezember hat sich etwas geändert in Berlin, seit dem Tag, an dem der Attentäter Anis Amri mit dem LKW über den Weihnachtsmarkt am Breitscheidtplatz raste, zwölf Menschen tötete und 58 verletzte. Der Terror hat die deutsche Hauptstadt erreicht. Die Frage, wie das passieren konnte, konnte erst nach drei Tagen beantwortet werden. Ob und wie solche Attentate künftig verhindert werden können – diese Antwort steht immer noch aus. Das Problem: Obwohl Amri zahlreichen Behörden längst aufgefallen war, wegen seiner Kontakte in extremistische islamische Kreise sogar als „Gefährder“ galt, war ihm nichts nachzuweisen.  Ist das ein Versagen des Staates?   „Niemand kann aufgrund eines möglichen Verdachts festgenommen werden. So funktioniert unser Rechtsstaat nun einmal nicht. Damit der Staat eingreifen kann, muss immer erst eine gewisse Schwelle überschritten werden.“ Dieses Zitat Satz stammt von einem, der es wissen muss: Bernd Palenda, Chef des Berliner Verfassungsschutzes. An einem Sonntag im Februar war er zu Gast bei einem politischen Frühschoppen der SPD Treptow-Köpenick. Und gab einen Einblick in seine Tätigkeit und einen Überblick über die sogenannten „Beobachtungsfelder“, z. B. den Islamismus. Für den frisch gekürten Innensenator Andreas Geisel waren nach dem Attentat die Weihnachtsferien wenigstens dahin. Er musste Vorschläge machen, wie dem Terror beizukommen sei. Am 6. Januar trat er mit einem fünf Seiten starken Papier an die Öffentlichkeit und stellte das „Berliner Präventions- und Sicherheitspaket“ vor. Geisel fordert darin eine 100-prozentige Klärung der Identität von Menschen, die ins Land kommen; dies sei die zentrale Voraussetzung für ordnungsgemäße aufenthaltsrechtliche Verfahren. Ob das bei Amri genutzt hätte? Dessen Fall ist mehr als ein heißes Eisen. Der in Italien auf der Flucht erschossene Tunesier – das war Anfang Januar bereits bekannt – ist unter 14 Identitäten in ganz Deutschland unterwegs gewesen. Auch zur angeordneten Abschiebung ist es nicht gekommen. Außerdem haben  sich acht verschiedene Staatsanwaltschaften in drei Bundesländern mit ihm beschäftigt.
Es gibt keine 100-prozentige Sicherheit.
Die Reaktion auf solch einen Täter wirkt da ein bisschen hilflos, das Sicherheitspaket teilweise wie Aktionismus. Als „klares Signal“ will der Innensenator die  Aufrüstung der Berliner Polizei verstanden wissen. Für 45 Millionen Euro bloß in diesem Jahr werden nun Pistolen, Maschinenpistolen, schusssichere Westen und weitere Rettungsfahrzeuge der Feuerwehr  angeschafft. Die angekündigte flächendeckende Ausweitung der  Videoüberwachung, die Andreas Geisel  als zusätzliches Instrument der Polizei einführen wollte, konnte er in der rot-rot-grünen Koalition nicht durchsetzen. Immerhin ist sie als mobile Überwachung „anlassbezogen und temporär sowie zeitweise an ausgewählten kriminalitätsbelasteten Orten“ zugelassen. Der Nutzen von Kameraüberwachung ist allerdings umstritten. Zwar wären inzwischen laut Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov 60 Prozent der Deutschen mit einer Überwachung öffentlicher Plätze einverstanden. Aber eine Kamera kann keine Straftat verhindern. In Berlin gibt es derzeit etwa 15.000 solcher Geräte, der Großteil davon – 13.640 – kommt auf U- und S-Bahnhöfen zum Einsatz. Bei Bedarf werden die Aufzeichnungen von der Polizei ausgewertet. Außerdem sind private Videokameras im Einsatz, die aber nur den eigenen Besitz aufzeichnen dürfen. Über ihre Verbreitung gibt es keine Erhebungen. Zwar haben Kameras zur Aufklärung von Gewalt und Verbrechen beigetragen, etwa als der sogenannte U-Bahn-Treter Ende Oktober 2016 ohne Grund und Vorwarnung einer Frau auf der Treppe eines U-Bahnhofs in den Rücken getreten hat. Befürworter  argumentieren, Kameras würden verhindern, dass dieselbe Person eine weitere ähnliche Tat begeht.  Aber es lassen sich auch Beispiele aufzählen, wo Kameras keine oder nur unbrauchbare Bilder geliefert haben. Bernd Palenda findet, dass man bei diesem Thema genau zwischen Sicherheitsbedürfnis und Freiheitsgefühl abwägen muss. Zurück zu den Maßnahmen des Innensenators. Die „präventiven Maßnahmen“, die er verstärken will – allgemeine Wertevermittlung und schnellere Integration –, sollten ohnehin Aufgabe der Flüchtlingspolitik  sein. Und Prävention  hätte Amris Tat kaum verhindert. Er galt als islamistischer Gefährder. Dass er dennoch einen Anschlag verüben konnte, hat Fassungslosigkeit hervorgerufen. Bei dem Begriff „Gefährder“ zeigt sich zudem, auf welch unsicherem Terrain die Sicherheitsdebatte geführt wird. Wer ist überhaupt ein Gefährder? In die  Welt gesetzt hat den Begriff Wolfgang Schäuble vor zehn Jahren in einem Interview. Der frühere Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich präzisierte, es handele sich um „Personen, bei denen Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sie erhebliche Straftaten begehen könnten, einschließlich eines Anschlags.“ Eine rechtlich sichere Grundlage ist das nicht. Das hat das Durcheinander um Amri ja gezeigt. Der stand ab April 2016 unter Beobachtung, weil die Sicherheitsbehörden vermuteten, er wolle einen Anschlag begehen, ein Blutbad anrichten, weil er Einbrüche plane, um dafür an Geld zu kommen. Aber Amri ist in dieser Zeit lediglich als Kleinkrimineller aufgefallen: Dealereien, Schlägereien – nichts, das auf einen Terrorakt hingewiesen hätte. Obwohl Amri dem radikalmuslimischen Umfeld nahestand, wird die Überwachung im September wieder eingestellt. Weil sich der Verdacht gegen ihn nicht erhärtet hat. Ist Deutschland also den Islamisten wehr- und hilflos ausgeliefert? Zumindest ist die Anzahl derer, die zu Anschlägen bereit sind, relativ gering. In ganz Deutschland geht man von 500 bis 600 Gefährdern aus. Bernd Palenda unterscheidet zwischen Islam, der Religion, und Islamismus, dem politischen Zweig des Glaubens. Und auch die zahlreichen Gruppierungen des politisierten Islam sind nicht per se gewalttätig. Unter besonderer Beobachtung stehen in Deutschland die Salafisten, die für traditionelle Werte aus dem Mittelalter stehen und laut Verfassungsschutzbericht jeden diffamieren,  selbst Muslime,  die nicht ihrer Linie folgen.  In Berlin gibt es schätzungsweise gut 700 Salafisten, davon sei die Hälfte bereit, Gewalt anzuwenden.
Der Aufwand kann höher sein als der Nutzen.
Ein Umsturz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, über die der Verfassungsschutz zu wachen hat, steht wohl nicht zu befürchten, aber tatenlos zusehen – das geht natürlich auch nicht. Doch welche wirksamen Mittel gibt es? Noch dazu, wenn man sich vor Augen führt, dass gegen einen Mann wie Amri acht Staatsanwaltschaften in drei Bundesländern ermittelt haben. In diesem Zusammenhang steht eine weitere Aussage vom Berliner Verfassungsschutz-Chef: „Es gibt keine 100-prozentige Sicherheit. So ein Anschlag wie auf dem Weihnachtsmarkt kann sich jederzeit wiederholen.“ Das klingt wie eine Binsenweisheit. Aber beim IS hat man diese Schwachstelle ebenfalls erkannt und dazu aufgerufen, Anschläge ohne Waffen und ohne Sprengstoff zu verüben. Attentäter, die ins Visier des Verfassungsschutzes oder  der Fahnder geraten, hätten im Verdachtsfall eine weiße Weste: Amri hat einen LKW gestohlen. Der Attentäter von Würzburg, ein 17-jähriger Flüchtling, der im Sommer 2016 Passagiere im Zug angriff, ging mit Axt und Küchenmesser auf sie los. „Diese Art von Waffen gibt es in jedem Haushalt“, sagt Palenda, und darum seien sie zunächst unverdächtig. Eine weitere Möglichkeit, Gefährder kalt zu stellen, ist die elektronische Fußfessel.  In Berlin sprach man noch  von „engmaschigen Meldeauflagen“.  Aber kurz darauf,  Anfang Februar, hat  das Bundeskabinett eine Gesetzesänderung beschlossen., wonach Extremisten, denen ein Anschlag zugetraut wird, elektronisch aus der Ferne überwacht werden können. Das hört sich nach Sorglosigkeit an, birgt aber auch Tücken. Von juristischer Seite dürfen Fußfesseln nun zwar bei „Staatsschutzdelikten“ angeordnet werden, aber erst nach einer verbüßten Haft. In bloßen Verdachtsfällen  kann die Anordnung, Fußfesseln zu tragen, schwierig werden. Auch in diesem Fall muss eine bestimmte Schwelle überschritten werden. Außerdem ist die Überwachung komplizierter, als man sie sich vorstellt. „Die Fußfessel gibt nur Auskunft darüber, wo sich jemand aufhält“, sagt Bernd Palenda. „Verlässt jemand den erlaubten Radius, wird zwar die überwachende Behörde alarmiert.“ Aber damit das System etwas bringt, müsse Personal auf den Weg geschickt werden, um den Betreffenden zu kontrollieren. „Doch die Träger von Fußfesseln probieren gerne aus, wo ihre Grenzen liegen – und eine Übertretung muss auch nicht immer gleich eine Gefahr bedeuten.“ Der Aufwand kann höher sein als der Nutzen. Schließlich soll nach dem Willen des Senats fortan  das Vereinsgesetz konsequent angewendet werden: „Vereine,  die Anschläge gegen Personen oder Sachen veranlassen, befürworten oder androhen, werden verboten.“ Hintergrund: Anis Amri hatte enge Kontakte zur Fussilet-Moschee in Moabit. Sie gilt als Islamisten-Treffpunkt in Berlin. Es gibt Kameraaufzeichnungen, die Amri am 14. Dezember vor der Moschee zeigen, späteren Erkenntnissen zufolge hat er sogar unter ihrem Dach gelebt. Wenn es um Verbote geht, sind die Trägervereine gemeint, die hinter den Moscheen stehen. Da reicht das Spektrum von unbedenklich bis äußerst gefährlich. Aber gefährliche Vereine zu verbieten, sieht Bernd Palenda kritisch. „Uns ist es lieber, wenn wir wissen, von wo die Gefahr ausgeht und sie dort beobachten können“, sagt Palenda. Würde man den Verein verbieten, gingen die Mitglieder woandershin. „Die ändern ja deshalb nicht ihre Weltanschauung.“ Dass ausgerechnet der Chef des Berliner Verfassungsschutzes weitgehend  andere Positionen vertritt, als das vom Senat beschlossene Präventions- und Sicherheitspaket es vorsieht,  muss ja nicht unbedingt schlecht sein. Aber ob es Vertrauen in Sicherheit gibt?

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