Lutz Böhm im Interview mit Jesta Phoenix

böhmUm Herrn Böhm zu erreichen, ziehe ich meine Wanderstiefel an und stapfe durch den Taumatsch von Friedrichshagen ans andere Ende des Müggelsee-Broadways nach Müggelhort. So sitze ich dann mit Lutz Böhm im Hechtstübchen und trinke heißen Sanddorn. Lecker. Der Vitamin C Schocker scheint mir gleich hinter die Augen zu steigen. Ich bin hellwach. Herr Böhm hat eine besondere Beziehung zu Hiddensee und fährt seit 25 Jahren mindestens einmal im Jahr hin, um nach dem Rechten zu sehen. Es gibt hier im Waldrestaurant auch eine ganze Sanddornkarte – alles direkter Hiddensee-Import und von Hand gemolken. Wer wissen möchte, wie der Sanddornstrauch gemolken wird, fragt am besten Herrn Böhm – er hat zahlreiche Erfahrung im Sanddornmelken und kann es bildhaft vorführen. Lutz Böhm muss man nicht viele Fragen stellen. Er redet gern und ich brauche einfach nur zuzuhören. Und zu erzählen gibt es viel – nicht nur vom Leben des Lutz Böhm, sondern auch von der Geschichte des Waldrestaurants und all der Menschen drum herum. An der Wand hängt ein altes Foto - ein Mann mit Schnurrbart und Mütze vor der Einmündung zum Müggelsee. Auf der anderen Seite des Wassers sieht man die alte Böhmsche Villa. Von dort sind sie damals jeden Morgen mit dem Boot herüber gerudert zum Restaurant. „Das auf dem Foto ist mein Großvater, Arthur Böhm. Er war ein begnadeter Klavierspieler. Wenn im Sommer die Sonne schien nahm er sein Buch, Sonnbrille, Mütze und Badehose und ging an den Strand. Wenn hier jemand meine Großmutter fragte: „Erna. Wo ist denn der Arthur? So antwortete sie: ‚Arthur? Arthur macht Lebeschön.“ Regelmäßig Lebeschön zu machen, daran wurde Lutz Böhm vor sieben Jahren nach drei Tagen künstlichen Komas erinnert. „Davor habe ich 70 Zigaretten am Tag geraucht, 20 Pötte Kaffee getrunken, 150kg gehabt und 13 Geschäfte geführt. Nach den Wochen und Monaten im Krankenhaus habe ich entdeckt wie viele verschieden Farben von Grün es gibt in diesem Wald, der doch die ganze Zeit hier neben dem Restaurant stand.“ Heute fährt er täglich 20-30 km mit dem Fahrrad und scheint auch so das Los der Böhmschen Männer ausgetrickst zu haben – die sind nämlich alle nicht alt geworden. Die Frauen schon. Die waren es auch die hier im Geschäft das Meiste gestemmt haben. Erna, die für Lebeschön-Arthur eingesprungen ist. Lutz Böhms Mutter Christa Böhm – Zarin Böhm, die mit all ihrer Kraft und Willenstärke nicht verhindern konnte, dass ihr das Restaurant 1968 weggenommen wurde und in eine HO verwandelt wurde. Lutz Böhm hat es dann 1992 von der Treuhand zurückgekauft. Eigentlich sollte es 1993 wieder verkauft werden und Lutz Böhm hatte schon die ersehnte Green Card der USA, um in Florida noch mal ganz neu zu anzufangen. Aber der Große Logiker da oben hat gewollt, dass es als Waldrestaurant Müggelhort in Böhmscher Hand wieder zu alter Blüte und Größe erwächst – aus dem Verkauf wurde nichts und Herr Böhm ging back to the roots. 1996 gab es dann die ersehnte Wiedereröffnung. Warum ist er hier geblieben, frage ich. Lutz Böhm erzählt, dass er eigentlich nie wirklich Grund gehabt hat, die DDR zu verlassen. Er hätte gekonnt, aber nicht das Gefühl gehabt, es zu müssen. „Ich habe nie meine Stimme gesenkt. Aber es war schon hart mitzubekommen, wie im Gespräch mit verschiedenen Leuten, dann irgendwann die Stimme der anderen immer leiser wurde.“ Während ich ihm zuhöre denke ich wie schon oft, dass Freiheit doch vor allem ein persönliches Gefühl ist, wenn nicht sogar eine Einstellung, die unabhängig ist von äußeren Umständen und allen Schikanen und Einschränkungen trotzt. Erst nachdem er ausgeredet hat, werfe ich ein, dass meine Frage gar nicht auf die DDR bezogen war, sondern auf das Haus hier. Es ist doch selten, dass jemand in einem Haus zur Welt kommt und Jahrzehnte später dieses Haus noch immer zum Lebensmittelpunkt hat. „Naja“, verbessert Herr Böhm, „geboren wurde er eigentlich im Krankenhaus Köpenick am 11. Juli, einem sonnigen Sonntag mit 36 Außentemperatur.“ Wir einigen uns darauf, dass das schon fast als ‚hier im Haus zählt. Lutz Böhm fühlt sich reich. Für ihn heißt ‚reich, dass er bis an sein Lebensende gut essen gehen kann. Um sich reich zu fühlen, braucht er keinen Helikopter, obwohl er den Flugschein dazu hätte. Aber das war ein Geschenk, genauso wie die wenige Markenkleidung, die er besitzt. Das ist ihm alles nicht so wichtig, wie ein gutes Glas Wein, ein gutes Konzert- oder Theaterticket. Trotzdem findet er, dass es in dieser Gesellschaft nicht verpönt sein sollte, Geld zu verdienen. Ein Pfennig ist für ihn noch immer ein Pfennig – noch heute bückt er sich dafür und hebt jedes Centstück auf. Träume hat er noch viele und diese wird er sich auch erfüllen. So ist er zum Beispiel bereits auf der Passagierliste für das 1. offizielle Passagierschiff, das die kanadische Nord-West-Passsage im Arktischen Ozean durchquert. „Das Bild, das ich von mir habe, ist an Deck zu stehen mit einem Glas Jack-Daniels, an einem Eisberg vorbeizufahren, mir ein kleines Stückchen abzubrechen und es in mein Glas gleiten zu lassen.“ Ich trete meine Rücktour an entlang der bonnie banks of Müggelsee. Während ich den Mut der letzten Eisfischer der Saison auf dem See bewundere, mache ich innerlich eine Liste von Dingen, die in meinem Leben noch passieren müssen, damit ich, wenn der Große Logiker mit dem Finger auf mich zeigt und meint: „Hey, Phoenix! Jetzt ist mal gut. Das wars“, auf die Lutz-Böhmsche Art antworten kann. Ich werde mich dann mit einem guten Glas Rotwein gemütlich zurücklehnen, noch einen großen Schluck nehmen und sagen – Is jut! Mb: 6 Uhr morgens. Sie wachen auf und sind Bürgermeister von Treptow – Köpenick für einen Tag. Was bewirken Sie in den nächsten 24 Stunden? Zuallererst setzte ich mich natürlich fu?r bessere Zugangsmöglichkeiten zum Müggelsee und Umgebung ein. Die Verkehrssituation muss besser werden. Es gibt keinen Grund, warum ein Bus es nicht auch bis hier raus nach Müggelhort schaffen sollte. Das Gleiche gilt natürlich für die Müggelberge und vor allem fu?r den Müggelturm. Dann würde ich mir meine Altbausubstanz anschauen und endlich mal entscheiden, was damit passieren soll. Treptow und Köpenick würde ich w ieder trennen. Ich würde sicherstellen, dass Kinder und Jugendliche ihre Freizeiteinrichtungen behalten und dass diese erweitert werden, damit u nsere Jugend von der Straße runterkommt. Was mir auch ganz wichtig ist – Politik und Wirtschaft endlich wieder an einen Tisch bringen, damit am gleichen Strang gezogen wird. MB: Einsame Insel. Wen nehmen Sie auf gar keinen Fall mit? Das kann ich gar nicht beantworten, weil ich glaube, dass man mit Respekt und Akzeptanz mit jedem irgendwie klarkommen kann. Es gibt einfach niemanden, bei dem ich mir das nicht vorstellen kann. MB: Zeitmaschine. In welche Zukunft oder Vergangenheit reisen Sie und wen wollen Sie dort treffen? Na klar würde ich mich für Einstein, Kant und Planck interessieren und mich einfach mal mit ihnen unterhalten wollen. Und es wäre natürlich auch interessant, m ich mit den Einsteins und Kants der Zukunft unterhalten zu können. Nicht nur mit denen – mit allen. Auch die kleinen Leute des Alltags wären für mich spannend. Dabei würde es mich gar nicht so interessieren, was Kleopatra fu?r ein Kleid trug, als sie von der Schlange gebissen wurde Ein Gedankenaustausch – darum gehts mir. MB: Welches Lied könnten Sie immer wieder hören und mitsingen? Runrig – Loch Lomond. Aber das ist bei mir so stimmungsabhängig. Auch Neil Diamond und Phil Collins haben eine Menge guter Sachen gemacht. Auch Madame Butterfly und Figaros Hochzeit höre ich mir immer wieder an. Tschaikowski ist nicht zu schlagen. Fu?r jetzt im Moment passt Neil Diamonds Beautiful Noise – da draußen gehts endlich los und es gibt eine Menge schöner Geräusche. MB: Was war Ihr Lieblingsessen als Kind? Bauernstulle. Ich bin ja hier im Haus aufgewachsen. Es gab nie viel Zeit für mich – das ist halt das Los der Kneiperkinder. Ich bin dann in die Küche mit meinen paar Jahren und meinte „Hey Kocher, mach mir mal ne Bauernstulle“. Das waren dann zwei Langbrotscheiben mit Butter, Salami und Mostrich. Eine Stulle, die man mit zwei Händen halten muss. Mit der bin ich dann abgedampft. MB: Woran glauben Sie? Na ja, es gibt Glauben und es gibt Hoffnung. Ich glaube an die Logik, ich glaube sogar an die Logik des Menschen. Ich hoffe, dass mein Glauben stark genug ist, das durchzuhalten. Ich glaube zum Beispiel, dass 1+1=2 ist, aber ich bin nicht überzeugt. Vielen Dank fu?r das Gespräch.

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