Licht im Herzen der Finsternis

Mit jedem Tag, den ich älter werde, fällt es mir merklich schwerer Sätze zu vermeiden, die mit den Worten beginnen: „Ja, früher … “ Den Blick und das Gehör darauf geschult, insbesondere meinen jüngeren Mitbürgern nicht sonderlich auf die Nüsse zu gehen (Ostern sag ich immer auf die Eier, Weihnachten also auf die Nüsse, so bekommt das scheinbar Beiläufige noch einen im Ansatz aktuellen Bezug), versuche ich das weitestgehend zu vermeiden. Aber! Es lässt sich sehr schwer an, denn: Früher war wirklich alles ganz anders, wenn im Grunde genommen aber auch genauso wie heute. Und davon will man besonders den zwangsläufig in Unkenntnis von früher lebenden jüngeren Zeitgenossen Licht ins Dunkle leiten. Früher war der Ku'damm, der eigentlich Kurfürstendamm heißt und im Bezirk Charlottenburg liegt das sogenannte Herz der Berliner City/West. Der zum Prachtboulevard gewandelte Trampelpfad diente ursprünglich Jägern als Weg von Berlin in die Jagdforste des Grunewald und lockte bis einst als Flaniermeile. Hier konnte man in vielerlei Konsumtempeln in Erfahrung bringen, was einem zum glücklichen Leben noch fehlte. Glasvitrinen mit edlen Ausstellungsstücken, Juweliere, Haute Couture, Parfümerie und Autohaus, alles, aber auch wirklich alles konnte hier gekauft werden, vorausgesetzt, man war potent genug und hatte ein paar Pimperlinge mehr in der Tasche als damals üblich. Früher, als im Berliner Osten kulturell noch tote Hose war, da kaufte ich Weihnachtsgeschenke unter anderem im Großraum Kuhdamm, Vinyl, das damals noch Schallplatte hieß, bei WOM in der Joachimsthaler Straße, Bücher bei Zweitausendeins, Textiles in der Uhlandstraße bei Market oder bei Stilbruch, wo der aber genau war, das habe ich heute schon vergessen, mein Gedächtnis war früher eben auch besser. Dass Letzteres schneller nachließ, als zu erwarten war, das könnte mitunter am Glühwein mit Schusss oder am Schussss auch ohne Glühwein liegen, den gab es nach dem Geschenke-Job im Anschluss immer reichlich auf dem Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz unter der Gedächtniskirche, dabei galt es als große Kunst, immer so viel Maß zu halten, dass zwei Mark für die Fahrkarte übrig blieben und man den Weg zum nahe gelegenen Bahnhof Zoo ohne fremde Hilfe zurücklegen konnte. Wer am folgenden Tag feststellen konnte, dass alle Geschenke vollzählig waren und den Heimweg unbeschadet überstanden hatten, der durfte diesen Weihnachtsbummel- Kuhdammausflug auf der Habenseite des Lebens verbuchen. Ist auch mal so geschehen. Früher, da hatten die Leute auch mehr Geld, besser gesagt, sie hatten weniger Geld, aber dieses war durchaus mehr wert. Ganz einfach deshalb, weil man früher nur die Kapitallistenschweine, Aufsichtsräte und Politiker und nicht noch die griechischen Banken durchfüttern musste. Für den ganz großen Beschiss ist der Grieche eben nicht gemacht. Was soll's, ich zahl's lieber den Griechen, auch wenn bei denen, die es brauchen könnten garantiert nichts ankommt. Früher, da bummelte man noch am Kuhdamm, es bummelte die Berliner Hautevolee, man trug Pelz, den man bei Lösche kaufte, sah und und wollte gesehen werden und die Touristen aus der bundesdeutschen Provinz rieben sich die Augen beim Anblick der vielen Eleganz. Mit vollen Taschen ging's dann ins Kranzler am Kuhdamm-Eck auf ein Tässchen Hag und ein Stück Abgeriebenen, abends Kultur im Theater am Kuhdamm, in der Schaubühne am Lehniner Platz, im Stau reihte sich Porsche an Maserati, die Taxifahrer machten einst am Kuhdamm immer gute Kasse. Heile Welt, heile Gänschen! Das nun folgende Früher, so um die 20 Jahre her, läutete, die Glocken der Gedächtnis- Kirche übertönend, das Ende des Glanzes der Prachtmeile ein. Die Shoppingcenter begannen auf dem billig von der Treuhand aus dem Volksvermögen der DDR erworbenen Grund und Boden wie Pilze nach einem warmen Septemberregen zu sprießen, die Konsumenten nahmen sie gern an, boten sie statt individuellem Flair einfach mehr Bequemlichkeit. Häufig steht in der Berliner Presse zu lesen, das die City Ost, namentlich die Straße Unter den Linden, dem Ku'damm den Rang ablief. Das wage ich kaum zu glauben, denn bereist man beide Straßen an einem Tag, was aufgrund der geringen Entfernung locker zu schaffen ist, dann stellt man fest, dass weder an der einen noch an der anderen Straße Menschenmengen flanieren. Wie auch, die sind ja alle in den Shoppingcentern, um Einheitsbrei für Schmales zu erwerben. Wie das Damokles Schwert schwebte das Theatersterben Ende der Neunziger Jahre auch überm Ku'damm, mit viel Engagement der Berliner Theaterszene blieb der totale kulturelle Kahlschlag aus. Das der Ku'damm trotzdem erledigt ist fällt jedem auf, der sich die Mühe macht, ihn hin und wieder zu besuchen. Auch wenn viele der Hotels in der City-West gut gebucht sind: Wenn der nahe Flughafen Tegel schließt, wird sich der Kuhdamm ein letztes Mal niederlegen. Noch sträubt er sich gegen sein unausweichliches Schicksal wie ein angezählter Boxer. Eine Fan- Schar ewig Gestriger der alten verwesenden Westberliner Mittelstandgesellschaft unterstützt ihn beim Hoffen aufs große Comeback. Jedes Jahr um die Weihnachtszeit strahlt der Kuhdamm im Glanz von 230 Kilometern Lichterketten, verblendet die Sicht auf seine Bestimmung. Ganz ehrlich muss ich gestehen, dass die äußerst kitschige Angelegenheit ein wenig Licht in mein finsteres Herz gelassen hat. Mein Mitleid hat er, der Ku'damm, das Mitleid mit einem Underdog. Mit ihm geht ein Stück vom schönen Früher, von meinen Erinnerungen an meine schöne Zeit verloren. Vielleicht auch deshalb empfehle ich meinen Fahrgästen, wenn es sich ergibt, einen kleinen Umweg über den beleuchteten Ku'damm in Kauf zu nehmen, natürlich, wenn es sich ergibt. Irgendwo muss der Rubel herkommen, mit dem wir den ganzen Spaß bezahlen müssen.

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