Oberschön!

oberschon02„Wenn ich auf Deinen Straßen geh“, heißt eine Zeile im Refrain eines Liedes, das Gitarrenspieler Dirk Friedrich dem Ort widmete, an dem er die meiste und schönste Zeit seines Lebens verbrachte: Oberschöneweide. Schöne Zeit und Oberschöneweide? Wie das zusammen passen soll, wird oft noch bezweifelt, ehe der Satz ausgesprochen, denn geläufiger als der richtige Namen ist seine Verballhornung: Oberschweineöde – aus Zeiten, als hier im Gegensatz zu heute der Bär tobte. In seiner Glanzzeit zählte man hier ca. 35 mehr oder weniger Bierlokale, in denen nach getaner Arbeit die ruhelosen Fabrikarbeiter ihre vom Staub sozialistischer Werktätigkeit gedörrten Kehlen mit schäumendem Gerstensaft befeuchteten oder gelegentlich, besser oft, öfter oder eigentlich immer überschwemmten. Ein unter ehemaligen Arbeitern des Transformatorenwerkes Oberspree (damals ein Betrieb mit einigen tausend Arbeitern) bekannter Ort war der Werkteil V. Er wurde liebevoll nach seinem Inhaber auch Dr. Winkler genannt. Hier wurden keine Trafos gebaut, es winkte einen auch nicht die Schwester auffordernd ins Zimmer von Onkel Doktor, nein: Diese Begegnungsstätte heißt im offiziellen Sprachgebrauch auch weiterhin Bierquelle. Ein anderer Ort der Begegnung hieß Zum Feierabend. Hier trafen sich die Kabelwerker der Nachtschicht mit den Kollegen der Tagesproduktion und natürlich umgekehrt. Zeitweise, so berichten Augenzeugen, wurde der Arbeitstag komplett in den Feierabend verlegt, es schien wohl nichts dagegen zu sprechen. Örtlichkeiten dieser Art findet man heutzutage eher selten, haben doch die Schornsteine der Fabriken das Rauchen eingestellt. Und wer heute noch in Schöneweide Arbeit hat, der meidet die Gastlichkeit, weil man mal eben nur ein Bier nicht trinken geht. Und wer keinen Arbeitsplatz mehr hat, ist beim Spätverkauf preiswerter dran. Was ist nun geworden aus Feierabend, W5 und Co.? Werk V läuft wieder unter Bierquelle, und es stehen Kiloschnitzel und Korn auf dem Programm. Alles Trinkbare natürlich für den kleinen Geldbeutel, und der Korn läuft dem Schnitzel längst nicht den Rang als Ladenhüter ab. Migranten bieten in den alten Kneipen Kulinarisches für eine zahlreiche Schar keiner Gäste an. Der Frische sei Dank können dort nun suizidgefährdete Personen Erlösung finden. Einzig allein der Feierabend hat mein Wohlwollen, heißt jetzt Q- Bar. Es stehen statt Gummibäumen Palmen in den Ecken, und an der Fassade prangt weltstädtisch ein Schild mit Bierwerbung einer Hamburger Kultmarke, man sitzt im Gestank der Wilhelminenhofstraße und kann Cocktails kultig open air schlürfen. Der Wirt, ein O-weider mit 15 Jahren Ostaufbau-Erfahrung, mit seiner Frau die größte Attraktion im örtlichen Nachtleben, bekam vom Tiefbau die Antwort zum Gestank: „Wo wenig Leute wohnen, wird wenig gespült, und wo wenig gespült wird, da bleibt die Scheiße eben da, wo geschissen wird.“ Woher kommt die Scheiße überhaupt, wenn keiner da ist, der isst? Vorrangig ist die Bude am Wochenende voll, wenn dort frustrierte Union-Fans ums verlorene Spiel trauern. Mal ehrlich, ohne die üblichen Unmengen von Gerstensaft ginge auch hier nichts, und ob nun des Bieres selig oder vom Cocktail duselig, was macht den Unterschied? Ich aber liebe Schweineöde so, wie es ist. Ich weiß seine gute Lage zu schätzen, kenne die Ecken, die zu meiden sind, und spare viel Geld, weil die einzige Shoppingmeile das Non-Food-Regal des Discounters ist. Und liebe es so mehr als dann, wenn die Leute kommen, die seine Schönheit jetzt noch leugnen, um es bald mit angewiderter Miene nach ihren Vorstellungen, mit viel Gier und wenig Rücksicht zu verändern.  

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