Das Leben im Fünfminutentakt

Fünf Gehminuten vom S-Bahnhof Schöneweide entfernt, beginnt Oberschöneweide auf der anderen Seite der Spree. Direkt am Spreeufer neben der Brücke ragen die Spreehöfe mit ihren gelben Klinkerfassaden in die Höhe. Weit im Wirrwarr der Hinterhöfe versteckt, gibt es im dritten Stock eine Kunstetage. Dort soll die Schaltzentrale von Janet Güttel und Ulrike Hoffmann liegen, von wo aus sie etwas für Oberschöneweide ganz Absonderliches verzapfen. Es ist bereits das dritte Internationale Kurzfilmfestival, mit dem die beiden Initiatoren am 14. bis 16. November wieder neues Licht jenseits der brachialen Hollywoodstreifen in den Kinosälen der Spreehöfe erstrahlen lassen. Irgendwie passt das, denn die Spreehöfe beherbergten einst die Lampenfabrik Fister, und vom Licht zum Film ist es nicht mehr weit. Die Kunstetage entpuppt sich als familiäre Künstlerkommune. Der lange Flur ist ein wahrer Begegnungsraum. Auf dem Weg zu Janets und Ulrikes kleinem Büro treffe ich lauter nette Menschen, die ich kurz darauf beim Vornamen nennen kann; darunter auch zwei Filmemacher: Fabio Dentella und Dave Lojek, letzterer von Kino Berlino. Janet (39) und Ulrike (42) liegen vom Alter nicht weit auseinander und haben sich im Kindergarten kennen gelernt. Das war vor drei Jahren. Da waren sie beide bereits Mütter. Neben den Kindern haben sie weitere Gemeinsamkeiten, z.B. in Oberschöneweide wohnen und gleichzeitig nicht in Berlin geboren sein. Janet kommt aus Schwedt an der Oder und Ulrike aus Garmisch-Partenkirchen im Allgäu. „Da mach ich halt mein eigenes Festival!“ Nach Berlin kann man sich schon mal verirren – so was kommt vor. Aber wie kommen denn nun Janet und Ulrike zum Kurzfilm? Hier kommt wieder der Kindergarten ins Spiel, wo sich die beiden ja bereits im Jahr 2005 kennen gelernt hatten. Bei dieser Gelegenheit kamen die beiden Frauen miteinander ins Gespräch. Ulrike richtete zu jener Zeit eine Fotoausstellung aus und Janet machte bereits seit den Neunzigern mit Freunden Kurzfilme. Da zwischen Fotografie und bewegten Bildern nun auch keine Welten liegen, nahm der Gedanke, da etwas Gemeinsames machen zu wollen, schnell konkretere Formen an. Als dann im selben Jahr ein Kurzfilm von Janet bei drei verschiedenen Festivals abgelehnt worden war, weil man dort die finanziell besser ausgestatteten Streifen der Hochschulen vorzog, war das Fass übergelaufen. Frustriert sagte sich Janet: „Da mach ich halt mein eigenes Festival!“ Was eben noch vielleicht halb im Spaß dahergesagt war, nahm jedoch bald die Ausmaße eines tragfähigen Konzepts an, dass auch der Aktionsfond Oberschöneweide mit einer Fördersumme honorieren wollte. Janet und Ulrike wollten ein Festival für Kurzfilme machen, wo eben auch die Low- und No-Budget-Filme eine Chance hätten, gezeigt zu werden, wenn sie denn nur gut sind. Sie wollten der Dominanz der finanziell gut ausgestatteten Hochschulproduktionen, die nicht selten mit für Normalsterbliche unerreichbare Summen zwischen 10.000 bis 30.000 Euro unterstützt werden, etwas entgegensetzen. Mit Frau Weller und dem benachbarten Kino in den Spreehöfen war die perfekte Kooperation für den Austragungsort gefunden und der Filmaufruf brachte bereits im ersten Jahr eine Menge Filme ein. Damit war das Kind aus der Wiege gehoben – Oberschöneweide sollte sein eigenes Internationales Kurzfilmfestival bekommen. „Medienkompetenz statt Fernsehkonsum“ Von Beginn an stand ebenfalls fest, dass eine Sparte vertreten sein sollte, die es so bisher noch bei keinem der bekannten Kurzfilmfestivals gab und dem Oberschöneweider Kurzfilmfestival ein Alleinstellungsmerkmal verlieh, der Kinderfilm. Das besondere dabei, Kinderfilme werden hier auch von Kindern gemacht. Diesem Credo folgend, war es den Müttern insbesondere wichtig, Kinder zu aktiven Filmemachern zu erziehen, statt sie als passive Fernsehgucker abzustellen. „Medienkompetenz statt Fernsehkonsum“, bringt es Ulrike auf den Punkt. Weil so etwas aber nicht ohne Anleitung geht, wurde eine medienpädagogische Werkstatt namens „Spreefilmkinder.de“ ins Leben gerufen, wie es sie bisher hier in Oberschöneweide noch nicht gegeben hatte. Seitdem können Kinder hier ihre ganz eigene Sicht der Dinge filmisch umsetzen. „Kinder bilden im Unterschied zu erwachsenen Filmemachern ungefiltert ab“, sagt Ulrike. Bei den jüngeren Kindern sind das oft noch Spielwelten, die bei den älteren Kindern aber schnell durch die Thematisierung von Problemen ersetzt werden. Mittlerweile wird auch die Stelle einer Medienpädagogin finanziell gefördert, die in diesem Jahr bereits fünf erfolgreiche Filmwerkstätten mit Kindern durchführen konnte, bei denen inzwischen auch die Kinder von Ulrike und Janet mitmachen. Am Kurzfilmfestival selbst nehmen insbesondere Schulen mit ihren Beiträgen teil. Für die ersten drei Plätze gibt es sogar Geldpreise, aber das Beste an so einem Festival ist für Kinder wie die großen Filmemacher gleichermaßen, den eigenen kleinen Film einmal auf großer Leinwand zu erleben. „Resozialisierungszone für Ex-Knackis“ Aus der beschützten Welt Garmisch-Partenkirchens nach Oberschöneweide aufzubrechen, ist schon ein gewisser Kontrast, muss Ulrike einräumen. Das nun gerade das schnöde Oberschöneweide ein Kurzfilmfestival bekommt, mag überraschen, hat aber einen besonderen Grund, wie Janet und Ulrike offenbaren. Sie beginnen davon zu erzählen, dass Oberschöneweide vor der Wende als eine Art Resozialisierungszone für „Ex-Knackis“ diente, um sie von hier als Arbeiter in die Industrie einzuschleusen. Derartige Einflüsse finden sich zum Teil bis heute in signifikantem Maße in der Bevölkerungsstruktur von Oberschöneweide wieder. Zwar gibt es hier heute auch die aufstrebenden Produktionsparks mit kreativem Output, doch die dortigen Mitarbeiter „kennen zwar den Weg nach Schöneweide, wohnen aber in Prenzlberg oder sonst wo“, mussten Janet und Ulrike feststellen. Im Ergebnis ist in Oberschöneweide nix los und das kulturell-geistige Leben verkümmert. „Da wollen wir was entgegensetzen“, sagt Ulrike entschlossen. Es geht darum, Licht ins Dunkel zu bringen, und manchmal ist das gewissermaßen auch ein bisschen wie den Lichtschalter für „Unterbelichtete“ umlegen. „Esprit!, Und nicht son Beziehungsquatsch“ Der Zuspruch ist jedenfalls so groß, dass mittlerweile das dritte Festival ansteht. „Nach dem Festival ist vor dem Festival“ ist bei Ulrike und Janet längst zur Devise geworden. Organisiert wird ein dreiviertel Jahr im voraus. Neben dem Janet-Ulrike-Kernteam kommen jede Menge Freunde und Bekannte dazu, die selbstlos hier und dort mithelfen, jemanden kennen, der jemanden kennt, usw. Zum Glück konnte das Festival Sponsoren gewinnen; in diesem Jahr sind das die Aktion Mensch – Die Gesellschafter, das Bezirksamt Treptow-Köpenick und wieder der Aktionsfond Oberschöneweide. Verdient hat dabei aber bisher keiner etwas. Es wäre schon ein unverhoffter Erfolg, wenn vielleicht das Geld für den nächsten Flyerdruck überbleibt. „Dann im August beginnt die heiße Phase“ sagt Janet, denn dann trudelt das Gros der Filmbeiträge ein, die im Vorfeld angeschaut und beurteilt werden müssen. Auf die Frage, was denn einen guten Kurzfilm ausmacht, ruft Janet ohne zu überlegen „Esprit!“, „Und nicht so’n Beziehungsquatsch“ ergänzen beide weiter und schauen sich dabei vielsagend an und grinsen. Diverse Negativbeispiele gab es in der Vergangenheit offenbar einige. Einen ganz schlechten Stand haben skurrile „Selbstbeweihräucherungen“ bei den Frauen, die immerhin zuletzt auch die Auswahl der Filme treffen, die dann tatsächlich im Rahmen des Festivals laufen werden. Allerdings steigern sich Qualität und Niveau der eingesendeten Streifen kontinuierlich. „Dieses Jahr müssen leider erstmals auch richtig gute Filme draußen bleiben“, bedauert Janet. Die Menschen haben etwas mitzuteilen. Gerade gesellschaftliche Probleme und Randgruppen werden oft thematisiert. Letztes Jahr war das Thema Tod überdurchschnittlich hoch vertreten und dieses Jahr ist es das Altwerden. Passend zum Sponsor „Aktion Mensch“ werden auch Filme eingeschickt, die das Leben mit einer Behinderung thematisieren. Besonders beeindruckende Beispiele sind die Werke zweier selbst betroffener Filmemacher, die in ihren Filmen auf ungewöhnliche Weise einen Zugang zu ihrem Leben als autistischer bzw. einarmiger Mensch schaffen und dem Zuschauer neue Perspektiven erlauben. Die ausländischen Beiträge hingegen reflektieren noch einmal ganz andere Probleme, die dem gemeinen Mitteleuropäer zum Teil unbekannt sind. Solche Dinge werden dann entweder schonungslos drastisch und nicht selten mit Schockeffekt abgebildet, oder – ein besonderes Faible der Osteuropäer – bitter und tragikkomisch verarbeitet, dass einem das Lachen im Halse stecken bleibt. International ist das Festival bereits seit seiner ersten Stunde. In diesem Jahr gehen die Beiträge auch weit über den europäischen Raum hinaus. Es liegen bereits die Bewerbungen von Filmemachern aus so exotischen Ländern wie Australien, Neuseeland und dem Irak vor. Die Auswahl an Filmbeiträgen wird dementsprechend immer größer. Das liegt nicht zuletzt auch daran, dass die Anzahl der eingesendeten Arbeiten ständig zugenommen hat. Im Jahre 2006 bewarben sich Filmemacher mit insgesamt 176 Werken und dieses Jahr ist die 300er Marke bereits erreicht. Das spiegelt sich auch im Spektrum der Genres wieder. Von technisch, experimental und Animationen bis zur Dokumentation ist alles vertreten, so dass es für die Zukunft notwendig zu werden scheint, separate Sparten innerhalb des Wettbewerbs aufzutun. Das Filmfestival könnte bereits in diesem Jahr locker die doppelte Zeit – also vier bis fünf Abende – mit gutem Material bedienen. „Zehn Minuten sind eine ideale Länge; da kann man alles Wichtige reinpacken“ „Vielleicht können wir dieses Jahr sechzig Filme zeigen“ meint Janet und ergänzt, „wenn es gut läuft, sogar bis zu hundert“. Insgesamt stehen jedoch für die beiden Hauptabende jeweils nur drei Stunden zur Verfügung. Hinzu kommt der Kinder- und Jugendteil. Einen Zuschlag wegen Überlänge muss hier aber niemand fürchten. Der Festivalpass fürs ganze Wochenende kostet schlappe fünf Euro und Filme gibt’s dafür im Fünfminutentakt. Das mit dem Takt kann jedoch noch niemand so genau sagen, denn ein Film gilt als Kurzfilm, wenn er nicht länger als dreißig Minuten ist. Den beiden Veranstalterinnen ist ein Mittelmaß von zehn Minuten am liebsten; „Zehn Minuten sind eine ideale Länge; da kann man alles Wichtige reinpacken“, sagt Janet. „Was ist eigentlich so toll am Kurzfilm, und was hebt ihn gegenüber dem regulären Spielfilm hervor?“, traue ich mich zum Schluss des Gespräches noch ganz täppisch zu fragen. Janet und Ulrike schauen mich mit begeisterten Augen an und beginnen sich gegenseitig die Stichworte zuzuspielen: „Es ist die konzentrierte Message“, die „Reduzierung aufs Wesentliche“. Zuletzt ist die Fotografin ganz in ihrem Element angekommen: „Die starken Bilder, die erzeugen einen starken Eindruck“. „Der Kurzfilm ist pointiert“, lautet das gemeinsame Fazit. Und einer, der es wissen muss, sagte einmal etwas so oder so ähnlich, wie das Janet nun in pathetischen Worten wiedergibt: „Der Kurzfilm kann alles, was der Langfilm kann, und manchmal noch viel mehr.“

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