Dem Ingenieur ist nichts zu schwer

Bisher glaubte ich, das berühmte Diktum „Dem Ingenieur ist nichts zu schwer“ stammt von Daniel Düsentrieb. Leider falsch. Es ist von Heinrich Seidel. In seinem Ingenieurslied aus dem Jahre 1871, bildet es die erste Zeile. Da heißt es weiter in der fünften und sechsten Zeile: „Der Ingenieur türmt Bögen in der Luft, Er wühlt als Maulwurf in der Gruft!“ Heinrich Seidel, Berliner Ingenieur aus Mecklenburg, ist ein Bögentürmer und ein Maulwurfswühler. Er hat in den Gründerjahren Bögen in die Luft getürmt. Das sensationelle Glasgewölbe vom Anhalter Bahnhof hat er konstruiert, die York- Brücken der Berlin-Anhaltischen Bahn sind sein Werk.

zuckermahn_schlossplatztheater Heinrich Seidel hat als Maulwurf in der Gruft gewühlt und dunkelbunte Märchen geborgen. Aus der Höhe seiner Bögen hat er den Boden, der die Fundamente trägt, nicht aus den Augen gelassen. Am Tage Brücken bauen und nachts Märchen spinnen, in diesem Leben ist das Paradox exemplarisch. Ein Brückenbauer für Morgen hält mit den Märchen den Kontakt zum Gestern. Was er tagsüber mit seinen Brücken zerstört, richtet er des nachts wieder auf.

Im Schlossplatztheater Köpenick bereitet die Junge Oper Berlin unter der Leitung von Birgit Grimm die Premiere der Berliner Erstaufführung von Dorothea Renckhoffs „Das klingende Haus“ vor. Es ist ein Stück nach Motiven von Heinrich Seidels Märchen „Der Hexenmeister“. Ich durfte – drei Wochen vor der Premiere – eine Probe besuchen.

Es ist ein Privileg, in diesem Stadium der Theaterarbeit zuschauen zu dürfen. Das Probenlicht ist fahl, die Akteure stürzen noch vom Podest, das Bühnenbild ist nur markiert, die Kostüme sind angedeutet und die Gesten sind noch nicht fixiert. Irgendwo steht eine Leiter herum, die könnte die Treppe zum Himmel sein. Das verheißungsvolle Nochnicht der Theaterprobe ist oft spannender als das abgestandene Nichtmehr der gesicherten Reproduktion. Schöner kann nur noch die Premiere sein. Alles ist noch möglich, nichts ist durch Perfektion verstellt. Das Gewölbe ist noch nicht da, aber die Fundamente sind schon erkennbar.

Am Anfang hat Rainer Maria Rilke das Wort. Er liefert den Prolog und das Motto: „…Nun aber laß uns ganz / hinübertreten in die Welt hinein / die monden ist…“ Monden! – das Wort ist Programm. Dass es mein Thesaurus nicht kennt, kümmert mich wenig. Die Musik, die ich auf der Probe hören konnte, ist – ich muss es mit Rilke sagen – monden. An der E-Gitarre: Ulf Nolte. Die von ihm und Erik Krossihm komponierten Klänge begleiten die schnörkellosen Gesänge, sie bilden traumverloren-rhythmische Untermalungen für die stilisierten Bewegungen der Spieler. Diese Musik, soviel konnte ich vernehmen, gibt dem Abend Halt und bildet ein verlässliches Ganzes.

Das frontale Spiel fällt ins Auge. Wie, um den Kontakt zum Publikum zu halten, bewegen sich die Darsteller in statuarischer Strenge. Der Hexenmeister Zuckermahn und sein gräflicher Zauberlehrling zeigen sich gemessen und kontrolliert. Die aufgewühlten Nachtzeichen der Romantik müssen durch die strenge Form gebändigt werden. In diesem Stück stöhnen die Pflanzen. Der Hahnenfuß kann laufen. Im Garten reden die Kräuter. Sie haben alte Namen, deren Nennung den Unwissenden beschämt.

Die Tiere sprechen. Es gibt die gefangene kluge Elster, die allen sagt, was niemand hören will. Die Mutter liegt im Grab und das trauernde Kind wünscht den eigenen Tod herbei. Das Speisen hat gewaltige mythische Macht. Wir hören von Küchenkräutern, von der Jagd, vom Kochen der Suppen. Der spanische Wein wächst mitten im Haus. Von Gold geht die Rede und Schnee ist in den Taschen.

Und dann, um noch einmal Rilke zu bemühen, ist da das mondene Mädchen Wendy. Die grundstürzende Traurigkeit des Waisenkindes und der Magnetismus seiner juvenilen Energie bilden die Nacht- und Tagseite dieser Figur. Wenn Wendy das klingende Haus betritt, begrüßt sie ein Chor von blökenden, muhenden, krähenden Stimmen. Das junge Blut erfrischt den verknöcherten Betrieb. Keine Alchimistenküche kann junges Blut brauen. Der mächtige Zauberer muss es von draußen in sein verrätseltes Haus locken.

Überhaupt der Zauberer: es muss ein Mecklenburger Druide gewesen sein, von dem Heinrich Seidel in seiner Kindheit gehört haben wird. Er kann Salben mischen, welche kranke Kühe zum Milchgeben bemächtigen. Bei ihm springt der Hase über die Mauer, gleich in die Küche und direkt in den Topf.

Das klingende Haus des Zauberers ist ein Labyrinth. Die vertikal drehbaren Bühnenwände, sind perspektivisch verjüngt. Sie erinnern, wenn die Spieler sie bewegen, an Buchseiten, auf denen dieses Spiel von Verrat und Vertrauen, dieses Gestrüpp von Macht und Ohnmacht geschrieben steht. Ich hätte gern mehr gesehen. Aber jedes Privileg hat ein Ende. Die Gitarre verstummte. Erik Kross sammelte die Noten ein. Die Spieler stiegen vom Podest. Die Probe war aus. Zuhause habe ich ungeduldig Seidels Hexenmeister-Märchen gelesen und dachte: Dem Ingenieur war das Herz so schwer.

Der Jungen Oper Berlin bleiben noch knapp drei Wochen bis zur Premiere am 7. November. Wer das Theater von innen kennt, weiß, was für arbeitsreiche drei Wochen auf Birgit Grimm und das Ensemble warten. Den Bögentürmern und Maulwurfswühlern in Köpenick sage ich herzlich: „Toi toi toi!“

Franz Zauleck 21. Oktober 2008

Schlossplatztheater Köpenick: Junge Oper Berlin.Berliner Erstaufführung „Das klingende Haus“ von Dorothea Renckhoff nach Motiven von Heinrich Seidel, Premiere: 07.11.08
Ein zauberhaftes Märchen, das von Einsamkeit, Angst, Misstrauen, aber auch Liebe und Vertrauen handelt.

Regie: Birgit Grimm
Musikalische Leitung: Erik Kross
Bühne/Kostüme: Gabi Bartels
Dramaturgie: Steffen Thiemann
Licht/Video/Grafik: Felix Grimm
E-Gitarre: Ulf Nolte

Mit: Marin Elisabeth Kroll, Klaus Heinker, Ingo Volkmer


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