Müggula – Das Grauen, das aus der Tiefe kam

Von FKK, Fotografie und schleimigen Riesendingern.
Erstveröffentlichung am 15.07. 2010
Für den 23. Juli 1977 sagten die Meteorologen einen heißen Sommertag voraus. Allenfalls am Nachmittag wären vereinzelte Gewitter zu erwarten. Am Morgen, gegen 9.30 Uhr, begegnete der Friseurfacharbeiter Sven K. dem zwölf Jahre älteren Kaderleiter Lothar S. am Nordufer des Müggelsees. Sie kamen ins Gespräch und entdeckten alsbald ein gemeinsames Interesse an FKK und Fotografie. Währenddessen machte Staatsbürgerkundelehrer Walter P. in Klein Venedig die Leinen los und dreht seine Jolle „Potemkin 2“ in den Wind.
Müggelseepanorama mit Boot der Volkspolizei und Müggula
Illustration: Sebastian Köpcke
Zur gleichen Zeit gönnte sich Zimmermann Mario G. eine Pause. Seit zwei Wochen war er damit beschäftigt, den Landungssteg der Clubgaststätte Rübezahl auszubessern. Viel hatte er noch nicht geschafft, da es vor allem an Brettern und Schrauben mangelte. Er war dennoch guter Dinge, denn sein privates Wochenendhaus hatte nun einen neuen Wintergarten. Ramona S. drehte ihre tägliche Runde mit Chow-Chow Bruno im Park am Spreetunnel, doch diesmal verhielt sich das Tier sonderbar. Bruno zerrte an der Leine und verweigerte sein großes Geschäft. Später gab Frau S. zu Protokoll: „Erst da fiel mir auf, wie still es war. Kein Vogel zwitscherte, keine Ente quakte, nicht eine Mücke schwirrte durch die Luft.“ Auf dem Weg zur Dampferanlegestelle begegneten ihr zwei Kinder, die schreiend das Weite suchten. Deren Identität blieb ungeklärt. Ramona S. schaute hinaus auf den See. In diesem Augenblick entschied sich ihr weiteres Schicksal. „Es war so grauenhaft, so furchterregend. Ein riesenhaftes Ungetüm ragte aus dem Wasser und glotzte mich an.“ Walter P. schilderte das Erlebte auf seine Weise:
„Das war so grauenhaft, so furchterregend! Das war so ein schleimiges Riesending, wie aus diesen Schundfilmen im Westfernsehen.“
Als Mario G. das Ungetüm erblickte, fiel ihm vor Schreck die Bierflasche auf den Fuß. „Bloß gut, dass es nicht mein Hammer war. Ich hätte nie gedacht, dass es bei uns so etwas gibt. So grauenhaft, so furchterregend! Ich dachte, so ein Monster lebt nur noch in diesem See in Frankreich.“ Sven K. legte gerade einen neuen Film ein, als sich das grasgrüne Wesen aus den Wellen erhob. Geistesgegenwärtig betätigte er den Auslöser. Ihm verdanken wir den einzigen handfesten Beweis für die rätselhaften Ereignisse dieses denkwürdigen Tages.

Die Staatsführung greift ein

Das Monster aus dem Müggelsee erhielt seinen Namen von der Stasi, Abteilung USP (Unsozialistische Phänomene). Die Akte „Müggula“ dokumentiert auf 738 Seiten eine der umfangreichsten Vertuschungsaktionen des einstigen Unrechtsstaates. Mit der Klärung des Sachverhalts wurde Oberleutnant Wolfgang Waldmeister betraut. Noch am selben Tag verhängte er eine dreitägige Ausgangssperre über den Großraum Köpenick. Von offizieller Seite wurde dies mit einem ausgedehnten Jagdausflug der Partei- und Staatsführung rund um den Müggelsee begründet. Doch weder den Spezialisten der Wasserschutzpolizei, noch Kampftauchern der Seestreitkräfte gelang es, einen Beleg für die obskuren Zeugenaussagen zu finden. Erst als Sven K. versuchte, seinen spektakulären Schnappschuss für 100 Mark der BZ-Am Abend zu verkaufen, nahmen die Ermittlungen ihre entscheidende Wendung. Nun schaltete sich Erich Mielke persönlich ein. In den Akten findet sich sein handschriftlicher Befehl:
„Gibt keine Monster im Sozialismus! Ding lokalisieren! Ding vernichten! Keine Zeugen! Keine Mitwisser! Kurzer Prozess!“
Anfang August überschlugen sich die Ereignisse. Die „Potemkin 2“ sank unweit von Hessenwinkel. Das Boot konnte geborgen werden, doch von Walter P. fehlt seither jede Spur. Mario G. wurde kurzfristig als Reservist zu einem Manöver nach Kasachstan einberufen. In den Unterlagen ist von einem tragischen Zwischenfall mit einer russischen Feldhaubitze die Rede. Ramona S. setzte ihrem Leben mit sieben Flaschen Goldbrand ein Ende. Sie kam nicht darüber hinweg, dass ihr Hund Bruno fortgelaufen war. Wolfgang Waldmeister notierte, dass der Streuner am nächsten Tag wieder aufkreuzte. Bruno wurde einer Pflegefamilie in Lauchhammer übergeben. Diese nannte ihn fortan Schnurzel. Lothar S. starb durch den Stromschlag einer defekten Trockenhaube, nachdem ihm Sven K. die Dauerwelle mit blonden Strähnchen veredelt hatte. Sven K. wurde eine Haftstrafe von 17 Jahren angedroht. Daraufhin unterschrieb er eine Verpflichtungserklärung der Staatssicherheit. Er erhielt eine neue Identität, einen Wartburg Tourist und eine Zweiraumwohnung im Allendeviertel. Dort lebt er bis heute mit seinem Lebensgefährten Wolfgang Waldmeister, mit dem er seit jenen Tagen das Interesse an FKK und Fotografie teilt. Zu einem persönlichen Gespräch war keiner der beiden bereit. Der pensionierte Sonderermittler versicherte jedoch telefonisch:
„Das sind doch alte Kamellen. Ein Monster im Müggelsee? Das hat es nie gegeben!“

Wer oder was war Müggula?

Tatsächlich findet sich in den Akten kein Hinweis auf den Verbleib des fremden Wesens. So bleibt die Frage: Was war Müggula? Die Experten kamen zu keinem abschließenden Urteil. Die einen hielten es für eine optische Täuschung, womöglich eine Reflektion des Müggelturmes auf der spiegelnden Wasserfläche. Andere waren überzeugt, dass es sich um eine Provokation des Westens handeln musste. Hatten die Bonner Ultras womöglich einen Festwagen des Kölner Karnevals über dem Berliner Naherholungsgebiet abgeworfen? Eine dritte Hypothese weist in eine andere Richtung. Demnach arbeiteten seit 1974 Wissenschaftler der Sporthochschule Leipzig auf höchste Weisung an einem geheimen Projekt zur Ertragssteigerung der beliebten Spreewaldgurken. Nach dem Willen der Parteiführung sollte das Wissen um die Erfolge der volkseigenen Leistungssportler künftig auch einer effizienteren Gurkenzucht zugutekommen. Kam es dabei zu einem dramatischen Zwischenfall? Ein letzter Aktenvermerk Erich Mielkes lässt aufhorchen: „Ab nach Bautzen! Die ganze Gurkentruppe!“  
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