Der Herr über eine Stimmung

Friedrich Nietzsche – der Musiker
„Also sprach Zarathustra“, „Die Fröhliche Wissenschaft“, „Ecce Home“, „Jenseits von Gut und Böse“, „Der Antichrist“ – Nietzsche. Alles Friedrich Nietzsche. Klar. So kennt man ihn, hat ihn vielleicht sogar gelesen. Landläufig eher weniger im Gespräch: „Da geht ein Bach“, „Verwelkt“, „Beschwörung“ – Lieder nach Groth, Petöfi und Puschkin; eine „Manfred- Meditation“ über Byron, ein „Hymnus an die Freundschaft“, Klavierstücke: der Komponist Friedrich Nietzsche.

Zeit seines Lebens liebte Nietzsche die Musik. Mit dem Nietzsche-Wort: „Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum“, sind Kindergenerationen an Klavier und Violine beordert worden. Bereits als 14-Jähriger hatte Nietzsche 1858 notiert: „Gott hat uns die Musik gegeben, damit wir … durch sie nach oben geleitet werden. Die Musik vereint alle Eigenschaften in sich, die kann erheben … sie kann uns aufheitern, ja sie vermag mit ihren sanften, wehmütigen Tönen das roheste Gemüt zu brechen!“

Im elterlichen Pfarrhaus, lutherisch, musikalisch, wurde er „mit dem Heimweh des Ohres, dem unstillbaren und jenseitigen Durst nach Musik beschenkt“. Und so erlernte Friedrich Nietzsche in jungen Jahren das Klavierspiel. Und autodidaktisch eignet er sich auch das Komponieren an. Mit acht Jahren begann der Knabe Friedrich, Familienmitglieder mit eigens komponierten Liedern zu beschenken. Seine Stücke widmet der junge Künstler seinen Verwandten etwa zu Festtagen.

Als 17-Jähriger konvertierte er Teile aus dem Weihnachtsoratorium zu einer „weltlichen“ Klavierfantasie. „Schmerz ist der Grundton der Natur.“ Bereits hier wird seine musikalische Dichtung zu deskriptiver Musik. 1860 nahm er sich den sagenberühmten Tod des Ostgothenkönigs Ermanarich zur Vorlage für ein dramatisches Gedicht. Doch während der Text über Entwürfe nicht hinauskam, ließ sich Nietzsche durch den Stoff zu einer symphonischen Dichtung inspirieren. Darüber hinaus widmet er sich vor allem musikalischen Kleinformen, „Albumblätter“, siehe Mendelssohn, „Lieder ohne Worte“, Lieder als Lyrik. Der Komponist Nietzsche gibt hier sein Bestes.

Der lyrische Grundzug im philosophischen Werk Nietzsches findet seinen bekräftigenden Beweis in den lyrischen Kompositionen. Schumann und Chopin, Beethoven und Liszt stehen im vor Augen, wenn er mit seinem ganz eigenen Zug der Melancholie komponiert. Seine musikalische Vertrautheit gewinnt Nietzsche aber vor allem in den Oratorien, Motetten, in liturgischer Musik, wie er sie im Elternhause kennenlernt. Am Klavier improvisiert der junge Nietzsche stundenlang. „Das Leben ohne Musik ist“ ihm „Irrtum, eine Strapaze, ein Exil“, wie er noch 1888 schreiben wird.

Und auch in Basel, da – 24-jährig – bereits Professor für klassische Philologie, musiziert Nietzsche mit seinem besten Freund, Franz Overbeck, gerne vierhändig am Klavier. Nietzsche beschäftigte sich mit der zeitgenössischen Musikliteratur, schickte seine eigene „Manfred-Medition“ an den berühmten Dirigenten und Pianisten Hans von Bülow, der ihm, bei aller formalen Kritik, auch „ein gewisses Geschick bei der Vertonung von Gedichten“ attestiert.

„Von meiner Musik weiß ich nur eins, daß ich damit Herr über eine Stimmung werde, die, ungestillt, vielleicht schädlich ist“, beteuerte Nietzsche dem Maestro. Seine musikalische Begabung ist bestimmend zu seinem Wesen, sein Drang, in die Abgründe der Psyche zu leuchten, entspricht dem Willen eines Musikers, Seelenvorgänge ans Licht zu bringen, die einzig durch die Musik darstellbar erscheinen“, wie Dietrich Fischer-Dieskau es sagte. „Jenseits ihrer Mängel sind die Kompositionen und Kompositionsversuche Nietzsches … von besonderem und hohem Wert für die Erhellung seines Grundwesens.“

Doch im Eigentlichen beantwortet Bülow die Komposition des jungen Gelehrten vernichtend. „Bedauerliche Klavierkrämpfe“ seien in den „Meditationen“ zu vernehmen, und vom musikalischen Standpunkt aus habe das Werk „nur den Wert eines Verbrechens in der moralischen Welt“, pestet Bülow und warnt Nietzsche eindringlich, Wagner nachzueifern: „Eine in Erinnerungsschwelgerei an Wagnersche Klänge taumelnde Phantasie ist keine Produktionsbasis.“

Wagner! Er ist der Allmächtige, der alles Überstrahlende am Firmament der Musik des 19. Jahrhunderts. So sehen es jedenfalls viele seinerzeit. Nietzsche nicht. Am Anfang, als er, noch Schüler im Elite-Schulhaus Pforta, mit Wagners Kompositionen durch Mitschüler bekanntgemacht wird, bleibt er skeptisch. Die „Zukunftsmusik“ des Meisters Wagner betrachtet er kritisch.

Das wird sich ändern. Nietzsche wird komponieren für Wagner, genauer gesagt für Wagners Frau, Cosima – und ätzenden Spott dafür ernten. Bevor es dazu kam, schuf Nietzsche jedoch Großes, Anerkanntes, Erzählendes vom Wesen der Musik, wie er sie verstand. Von der „Schulzeit bis in seine letzten wachen Tage spannt sich ein gewaltiger Bogen musiktheoretischer Erörterungen“ – die nicht wirklich systematisiert sind. Das genialische Erstlingswerk des gerade 27-jährigen Philologie-Professors jedoch ist „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“. Nietzsche führt die Musik nicht nur im Titel, er erfasst sie, beschreibend auf etwa 100 Buchseiten, in 25 knappen Kapiteln, von den widerstreitenden Lebensprinzipien, dem formvollendeten Wesen des Apollon, dem rauschhaften Wesen des Dionysos. Und er ergreift in seiner Schrift nun die Partei Richard Wagners, in dessen Musik Nietzsche die ekstatische Urkraft des Dionysischen begriff.

Von der Lebendigkeit des göttlichen Richard Wagner sollte Nietzsche zu spüren bekommen. Aber das ist eine eigene, eine beinahe schauerliche Geschichte, von der wir ein andermal erzählen wollen.


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