Der Goldene Berlinale-Maulbär

Das Berlinale-Finale mit vielen lobenden Erwähnungen
Am Samstag trudeln nach und nach die Meldungen über die Preisträger ein. Viel darauf einbilden sollten sich die Gewinner/innen nicht.
Beitragsbild für die Berlinalekolumne 2024 von Nico Schmolke
Björn KI Hofmann

Denn für die 230 Filme sind etwa 50 Preise ausgelobt. 24 offizielle Berlinale-Auszeichnungen und wohl mindestens nochmal so viele unabhängige. Und das sind nur die mir bekannten.

Ich könnte jetzt noch den Goldenen Maulbären ausloben. Ein Preis mehr oder weniger macht keinen Unterschied. Weil mich der Chefredakteur fertig macht, wenn ich den Maulbären hier eigenhändig mit einem Tausender dotiere, lasse ich es besser sein.

Tagesspiegel und Berliner Morgenpost haben übrigens einen Leser*innenpreis, lieber Chefredakteur. Aber ich will ja nichts sagen.

So schreibe ich hier einfach, welche Filme ich in meiner nun endenden Kolumne noch nicht gepriesen habe, die aber unbedingt sehenswert sind. Lobende Erwähnung, so nennt man das in der Welt der Preise. 

„Verbrannte Erde“ - Fangen wir mit einem Film an, den Sie ab dem 18. Juli auch im Kino sehen können, so dass das für Sie hier nicht ganz so sinnlos ist. Im Spielfilm von Thomas Arslan hofft der Kriminelle Trojan nach einem geplatzten Uhren-Deal auf das nächste große Ding. Mit drei Komplizen soll er einen Caspar David Friedrich stehlen. Es wird wenig geredet, am Telefon auch mal gar nichts gesprochen und doch umso mehr gesagt, begleitet von schick-düsteren Berlin-Bildern und Sound, der unter die Haut geht. Sicherlich kein künstlerischer Festival-Film, eher richtig gutes Fernsehen, das auch mal im Kino laufen darf.

„Architecton“ - Die Bilder dieser Doku gehen mir nicht aus dem Kopf. Sprengungen in einem Bergwerk, gefilmt von einer Drohne, die langsam die Ebenen des Steinbruchs hochfliegt, um dann perfekt getimt die Explosion zu erwischen. In einer extremen Nahaufnahme, als Slomo gefilmt, sieht man die später zerkleinerten Steine auf einem Förderband förmlich tanzen. Alles unterlegt mit einer epischen Musik, die den Kinosaal leicht vibrieren lässt. Der Kontrast zum Abbau von Steinen sind riesige Tempelanlagen oder in Folge von Krieg und Erdbeben zerstörte moderne Gebäude. Ohne viele Worte zeigt der Film auf, wie wir heutzutage Berge abbauen, um Gebäude herzustellen, die 40 Jahre halten, um dann auf Schutthalden zu landen.

„Young Hearts“ - Dieser Spielfilm ist der kleine Bruder von „Close“, das letztes Jahr im Kino eine bewegende Coming-Out-Geschichte in Belgien erzählt hat. Die Regisseure sind befreundet, haben sich bei den Skripten unterstützt und so hat auch „Young Hearts“ zwei Jungen im Mittelpunkt, die sich ineinander verlieben, aber mit ihren eigenen Emotionen kämpfen müssen. Der Film kommt ohne Sexszenen aus, stattdessen erzählt er extrem authentisch die inneren Konflikte von jungen Menschen, die von einer heterosexuellen Welt verunsichert nach ihrer eigenen Rolle suchen. Unabhängig von der Akzeptanz durch ihr Umfeld bleiben die Ängste im eigenen Kopf, wenn man sich auf einmal nicht mehr zugehörig fühlt und sich fragt, wer auf dieser Welt zu einem halten wird. Wer sich nicht in diese beiden Jungen und einen süßen Opa mit Bauernhof verliebt, wird spätestens bei den sonnigen Bildern von Landschaften und Fahrradfahrten schwach, die einen dahinschmelzen lassen. Noch kenne ich keinen Kinostart, aber ich gehe stark davon aus, dass man den Film in Berlin irgendwann sehen kann.

„A Bit of a Stranger“ - Die Ukrainerin Svitlana Lishchynska erzählt in ihrer bewegenden Familien-Doku, wie ihre Mutter, ihre Tochter, ihre Enkelin und sie selbst im aktuellen Krieg nach ihren ukrainischen und russischen Wurzeln suchen. Wie tief steckt der Sowjet-Imperialismus in jedem Einzelnen, und was hält die Menschen in der Ukraine zusammen? Jede Generation der intim gefilmten Familie geht anders damit um, dass sie aus ihrer Heimatstadt Mariupol vertrieben werden, ob sie ihre Muttersprache Russisch weiter vermitteln sollen und wie groß die Hoffnung auf eine Wiederannäherung an das Nachbarvolk ist. Die Tage vor und nach der Invasion 2022 sowie die Flucht aus der Ukraine bis heute bilden den roten Faden der Dokumentation, dazu historische Familienaufnahmen von Hochzeiten und Einschulungen. Weil niemand den Humor verliert, muss man nicht nur weinen, sondern darf auch viel lachen. Ein Must See für alle, die glauben, dass man die Ukraine aufgeben und Russland sie sich einfach einverleiben sollte. Und natürlich für die, die immun gegen solch imperialistischen Erzählungen sind.

Und jetzt noch in ganz kurz ein paar weitere Diamanten:

„Sex“ - Zwei Schornsteinfeger in Norwegen, verheiratet und Kinder, geraten in Sinnkrisen, weil sie im Traum von David Bowie angeschaut werden und mit einem Mann fremdgehen. Humorvoller Spielfilm über fragile Männlichkeit in urbanen westlichen Hauptstädten.

„Ivo“ - Ein Spielfilm, der an vielen Stellen wie eine Doku über eine Palliativpflegerin wirkt, so authentisch wird ihre Arbeit gezeigt. Auch die Dreiecksgeschichte, die sowohl Pflegerin, als auch Sterbender und deren Mann trotz des Verrats Halt gibt, beruht auf einer wahren Geschichte. Ganz großes deutsches Kino!

„Sayyareye dozdide shodeye man - My Stolen Planet“ - Die Doku ist ein Denkmal für alle Frauen des Irans, der neben dem öffentlichen meist ein ganz anderes persönliches Leben führen. Filmemacherin Farah verwebt ihre Tagebücher, private Aufnahmen anderer Frauen und ihr eigenes Leben in ein emotionales Stück über Menschlichkeit, die Diktaturen nie auszulöschen im Stande sind.

„Oasis“ - Kinder baden in verdrecktem Kraftwerkswasser, auf Schulhöfen riecht es nach Industrie und die Ticketpreise der Bahn sind unbezahlbar. In Chile beginnt ein sozialer Aufstand, der in einer Versammlung zur Änderung der Verfassung aus Pinochet-Zeiten mündet. Die Doku fängt als Blaupause für die gesamte Welt ein, wie rechte Verschwörungstheoretiker die Debatte kapern und am Ende eine Mehrheit gegen eine liberalere Verfassung mobilisieren - und die mehrheitlich Armen weiter leiden werden.

Gokogu no Neko - The Cats of Gokogu Shrine“ - Katzen chillen an einem japanischen Schrein und Dorf und Touristen kümmern und streiten sich um sie. Nicht mehr, nicht weniger, einfach wunderschön.

Das war es mit meiner Berlinale-Kolumne. Sind Sie auch so Film-begeistert? Dann nicht nur streamen, sondern unbedingt wieder Ihr lokales Kino besuchen. Es braucht Sie!


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