Früher, zu Zeiten, als noch alles besser war, da wurde im September der Rechen aus dem Keller geholt, die Harke, die Schubkarre und der Spaten, alles kam von der gleichen Firma und war 100% kompatibel, so wie heute nur noch das post-sozialistische Einheitshandy vom Apfelmännchen. Harke, Karre und Rechen wurden auf gute alte Art mit Muskelkraft und Schweiß in Betrieb gesetzt. Es wurde der Hof mit kollektiver Beflissenheit vom Laube befreit und dieses hinter- her auf dem Scheiterhaufen zu Asche und Qualm verarbeitet. Auf unserem Hof übernahm der alte Herr Rettich die Regie bei diesen Arbeiten, der muss damals so um die 60 gewesen sein. Weil dem beim Harken immer ganz schön warm wurde, entledigte er sich erst der Jacke und bald darauf des Hemdes, wischte sich die Stirn mit einem gewebten Permanent-Tempo und harkte beflissentlich weiter in seinem weißen Feinripp-Unterhemd. So leicht bekleidet traten seine Kriegswunden ans Tageslicht. War ich ihm beim Entlauben des Hofes behilflich, erzählte er mir Geschichten von früher, als aus seiner Sicht noch alles besser schien.
Ich muss so um die sieben oder acht Jahre alt gewesen sein, trug die abgelegten Klamotten meiner älteren Geschwister und, nicht ohne Stolz, Nietenhosen aus dem Intershop. Natürlich besaß ich nur ein Paar dieser begehrten Beinkleider, weswegen ich diese täglich trug, ebenso wie alle meine anderen Klamotten, na außer vielleicht die Unterwäsche, so hoffe ich zumindest, mich zu erinnern. In diesem Aufzug ging ich zur Schule, in diesem Aufzug sprang ich in den Laubhaufen, in diesem Aufzug warf ich von den Kastanien in die Flammen, die der große Baum inmitten unseres Hinterhofs von sich warf. Oh Gott, ich schweife wieder mal ab.
Wie dem auch sei, der Herbst war und ist meine Jahreszeit. Seit frühester Kindheit fühle ich in mir einen Hang zu Melancholie und Trübsal und im Herbst passt sich das Wetter dann meinem Gemüt an. Die kürzer werdenden Tage, die kühle Morgenluft, sie wecken in mir die Lust nach frischem Apfelkuchen, mit Früchten aus eigener Ernte. Streift mich ein fallendes Blatt, weht mir der Wind ein frisches Lüftlein zu, ziehe ich die Schultern zusammen und schlage den Mantelkragen hoch. Letzteres eher fiktiv, da ich keinen Mantel besitze. Der Sommer stiehlt sich gemach aus meiner Wahrnehmung, nur noch blasse Erinnerungen bleiben haften. Es nährt sich in mir die Gewissheit, dass die Tage kürzer werden, die Nächte kühler und die kalte, feuchte und dunkle Jahreszeit unausweichlich vor der Tür steht. Der Frühling in unnahbarer Ferne. Bin dann gern allein mit mir oder umgeben von Leuten, die sich für eine feuchte Harkenladung um mich scharen und voll des Selbstmitleides
Erich Honecker- eher eine fiktive Gestalt wie der Zauberer von Oz
Jüngst war es der 7. Oktober, Gründungstag meines damaligen Heimatlandes, der Deutschen Demokratischen Republik, der mich in die Erinnerung zwingt. In den ersten Jahren meiner Schulzeit war ich begeistert vom Arbeiter- und Bauernstaat, davon, dass alle Menschen gleich sind, dass man die Bösen verjagt hatte und nun endlich mal die Guten regierten. Mein Vater hielt sich, als ich noch ein kleiner, unbedarfter Junge war, vornehm zurück mit Kritik an der roten Obrigkeit.
Meine Eltern fuhren oft mit mir in die Ostberliner Innenstadt, zum Schwimmen, zum Intershop, zum Weihnachtsmarkt am S-Bahn-Bogen und irgendwann auf einer dieser Fahrten entdeckte ich die Berliner Mauer, zwischen Plänterwald und Baumschulenweg. Da kamen mir Zweifel. Ein Land, das so nah war wie der Westen, so nah und berührbar lag knappe 60 Jahre entfernt. Ich fragte mich, warum die uns da nicht hin lassen, wenn doch bei uns alles viel besser war.
Aber zu jener Zeit war ich noch stolzer Teilnehmer von Paraden und Aufmärschen, war enttäuscht, wenn ich nicht Banner oder Fahne tragen durfte. Honecker mag ich wohl zu gewunken haben, gesehen habe ich ihn nur auf den Bildern in unserem Klassenzimmer, eher eine fiktive Gestalt wie der Zauberer von Oz. Die Jahre gingen ins Land und in mir kamen immer mehr Zweifel, ob bei uns wirklich die Guten regieren.
Es war die Diskrepanz zwischen den offiziell verkündeten und den realen Wahrheiten im Arbeiter- und Bauernstaat, die mich rebellieren ließ. Ich verfolgte den Umbruch in Polen Anfang der 80er mit großem Interesse. Mit elf oder zwölf Jahren ging ich das letzte Mal zu einem Aufmarsch. Die Begeisterung fürs Tragen von Banner oder Fahne war gewichen. Am ausgemachten Treffpunkt wurden die Transparente verteilt wie der schwarze Peter. Wer ihn erwischte, sah zu, dass er ihn schnellstmöglich und unauffällig entsorgen konnte. Es wurde 100 Meter mitmarschiert und sich dann wieder dünne gemacht.
ls ich mit 13 in die FDJ auf- genommen werden sollte, verweigerte ich lautstark die Gefolgschaft – mit den absehbaren Konsequenzen. Am 40. Jahrestag war absehbar, dass es Veränderungen geben würde, wie gravierend allerdings nicht. Ich bewundere den Mut derer, die damals den Stein ins Rollen brachten. Ich bevorzugte eher die innere Immigration bei einem Glas Bier. Hätten sie mich gefragt, ich wäre dabei gewesen.
Die Luft atmet sich gut am Morgen, es riecht nach feuchtem Laub und Apfelkuchen. Ich liebe den Herbst und beginne zu träumen. Am Osten war nicht viel Gutes, aber auch im Westen ist nicht alles Gold, was glänzt. Nichts liegt mir ferner, als die DDR für irgendetwas zu loben. Aber sie ist Teil meiner Vergangenheit und die Freude, mich ihrer Obskuritäten zu erinnern, die kann mir keiner nehmen.