Die Wurzel

Jedes Jahr aufs Neue zwingen mich die ersten Sonnenstrahlen, meine dem Winter geschuldete Unbeweglichkeit und die damit erlangten Pfunde Abbitte zu leisten, den Drahtesel zu besteigen und mich schweißtreibend in Richtung Osten zu begeben, um ein wenig Friede vor der Großstadt zu finden.

Immer ist die Umrundung des Müggelsees dabei die vorgegebene Route, doch oft reicht meine erste Kraft nicht für das, was ich am Ende des Sommers ohne größere Anstrengungen absolviere. Und so freue ich mich denn schon in Erkner auf eine Erfrischung in Schroers Biergarten, seltsamerweise hat der immer geöffnet. Ich biege am neuerdings sehr unschön anzusehenden Bahnhof links ab in die Bölschestraße, und sofort überkommt mich das Gefühl, im Urlaub zu sein. Diese Straße verdient eher den Zusatz „Allee“ denn profan nur „Straße“, es streckt sich vor mir in beeindruckenden Maßen der drei Dimensionen – flach, lang und breit – eine üppig bepflanzte Schöne, die trotz aller um sich rankenden Geschichten der letzten zweieinhalb Jahrhunderte durch diese zur Athene der Meilen Berlins gewachsen zu sein scheint.

Und so befahre ich sie in andächtiger Langsamkeit mit würdevollen Blicken nach links und rechts und träume detailverliebt, ergötze mich an den unaufdringlichen und beeindruckenden Fassaden des schönen Vorortes und suche im Geiste nach der Gründen, warum in aller Herrgotts Namen ein Schallplattengeschäft im Zeitalter von I-tunes, Raubkopie und Walkmanhandy mit Standleitung zum Wohnzimmer der Stars und Sternchen hier noch seine Pforten öffnen kann. Überhaupt drängt sich beim Erfassen der geschäftlichen Vielfalt der B. die Frage nach Sinn und Unsinn von Shoppingzentren auf, es verbreiten sich in mir die Erinnerungen an einen Einkaufsspaziergang der guten alten Art mit allen Vor- und Nachteilen wie Parkplatzsuche, Tüten rechts und Schirm links, Zigarette im Mundwinkel, bis die Glut die Lippen küsst. So beseelt träume ich noch, bis mich das Mehrklanghorn eines vorbei rasenden, tiefergelegtverspoilten Bauernporsches mit MOL-Kennzeichen ins beschauliche Leben zurückbeordert.

Endlich am Fuße der Schönen angelangt, ahne ich links abbiegend schon mein Zwischenziel nahen. Mit dem Rad treppab, vom Sattel springend platziere ich erst das Rad in Blickweite und dann mich mit dem zweiten Auge auf den Müggelsee am Spreetunnel. Ich bestelle einen Bohnenkaffee und genieße wie jeden Frühling das immer Wiederkehrende. Vom Koffein beflügelt drängt sich das Heimweh in die Urlaubsstimmung und ich wende mich der etwas schroffen Kellnerin zu, um meine Schuld zu begleichen. Macht zwee fuffzich, sagt sie.

Mach dreie draus, antworte ich und fühle einmal mehr als auf Ku’damm oder Unter den Linden, dass ick in Berlin zuhause bin.

Es ist klar, dass ich wiederkommen werde, denn hier warten das ganze Jahr noch kulturelle sowie kulinarische Leckerbissen auf mich, das Kino Union wird mich ebenso als Gast einplanen können wie das Pane Vino, ein Restaurant, in dem Nudeln wirklich italienisch schmecken. Und vielleicht spielt Chick Corea mal im Naturtheater Friedrichshagen, ein Coen Film Open Air ist garantiert drin. Ja, ich gestehe, meine Wurzeln trieben in Friedrichshagen, und erst was sich über der Erde befindet, entwickelte sich in Oberschöneweide. Und dafür sage ich: Danke Köpenick, du gibst mir so viel mehr Heimat als Hackesche Höfe und Potsdamer Platz.


Schachecke

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