Im Herzen der Finsternis – Durchs wilde Neukölln

Neukölln ist DER Bezirk! Blühende Landschaften, einst vom fetten Helmut dem Osten versprochen, nun endlich auch im Westen. Exilanten aus den exorbitant teuren Ecken mit Berg und Hain im Namen schufen hier den neuen Kultkietz. Kneipen schießen wie Pilze aus dem Boden, Cafe´s Bars und Shisha- Stuben befruchten die kommunikative Grundsituation eines Berliner Bezirkes, der noch vor wenigen Jahren nur für´s Parken in 2. Spur bekannt war und für seine Handyshops und für Herrn Buschkowsky, der im Rathaus sitzend die Situation im Bezirk im Blick aber nicht im Griff hat. Und für mehr fehlen mir die Worte. Wer von DEM Bezirk redet, der meint im Allgemeinen das Areal vom Estrell bis zum Hermannplatz, von Rixdorf bis Reuter- Kiez. Ein wenig im Abseits der kulturellen Reconquista befindet sich die Silbersteinstraße. Eigentlich ist sie nur ein Teilstück eines gewaltigen Straßenensembles, das den Benutzer vom Kupferkessel in Baumschulenweg direkt und gerade bis zum Großen Stern trägt, den mit der Goldelse und gesetzt sei aktive Bewegung. Dieses Asphaltensemble zeichnet sich von Alpha bis Omega nicht durch ausschließlich Attraktivität aus, obwohl entlang der Strecke immer wieder Gebäude mit sogenanntem historischen Charakter stehen. Insgesamt misst die Straße jedoch 15 km. Jene sind schwerlich Meter für Meter mit Attraktionen füllbar, auch wenn man Neubausünden der späten 70er rund um den Michael Bohnen Ring zum aufregenden Teil der Straße zählt – trostlos trifft den Hauptcharakter eher. Trostloser Gipfel ist und wird es wohl auch bleiben: die Silbersteinstraße. Gleich einem Geschwür beginnt sie recht harmlos. Gleich einem kleinen chirurgischen Eingriff schneidet sie sich in die tristgraue Häuserfassade an der Karl Marx Straße, an der die Blüte der 90er Jahre stillschweigend vorbeizog. Harmlos ist die nächste Etappe bis zur Hermannstraße. Eine beispielhafte Straßenkreuzung, um Geschichtsinteressierten zu zeigen, wie es sich in der DDR lebte. Noch säumen Bäume das schmale Trottoir. Weiter in Richtung Westen. Wie der ausgestreckte Dünndarm verbreitert sie sich mit jedem Meter und gleich dem inneren Organ, bietet sie ausschließlich Funktionelles. Grün findet der Betrachter häufiger anderswo, Bäume und Pflanzen wachsen nicht, wo keine Sonne hin scheint. Der Asphalt ist gesäumt von Mietskasernen, die an schmalen Bürgersteigen aus der Erde wuchsen, die keinen Platz für Vorgärten boten. Belanglos, blutleer, bedrohlich, vom naturalen Organismus verstoßen – das Herz der Finsternis. Schwere legt die Gedanken lahm, Enge und Unwohlsein. Ich fühle mich beim Befahren der Silbersteinstraße wie ein Stück Halbverdautes, das sich nach dem Genuss auf dem Wege zum Ausgang des Körpers befindet: Alles Wertvolle blieb auf der Strecke. Weder fest noch flüssig bis überflüssig, zäh und langsam der Erlösung, dem Arsch entgegen. Damit das zweifelhafte Vergnügen genügend Weile hat degradierten die Stadtverplaner „Silverstone- Avenue“ zur Tempo 30 Zone. Fraglich, warum kein stationärer Blitzer die befohlene Schleichfahrt überwacht, hier macht Temposünde Sinn. Dort, wo die Sibersteinstraße endet, beginnt die Oberlandstraße. Am Scheidepunkt liegt ein schwerer Findling zum Gedenken an Hatun Sürücü, die an dieser Bushaltestelle vor wenigen Jahren von ihrem Bruder erschossen wurde, weil sie ein selbstbestimmtes Leben führen wollte. Das steht auf der Messingplatte, die den Findling ziert. Kein schönes Ende der Geschichte. Aber der geneigte Betrachter kann sich auf die Fortsetzung freuen. Die Oberlandstraße liegt zwar schon in Tempelhof, bietet aber ähnlich viel guten Stoff. Guten Abend.

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