Du bist dir sicher / Du stehst oben am Berg /
4:45 Uhr morgens. Der beschissene Wecker auf dem iPhone geht in einer Lautstärke an, die nicht auszuhalten ist. Dämliche Sirenen. Und bevor ich mich versehe, stehe ich mit meinem Vater und einem seiner alten Freunde aus früheren Unionzeiten in einem minimalistisch geleckten Flughafen und warte.
Der V.I.R.U.S. und Union Berlin haben ganze vier Flieger gechartert, für die wir uns Plätze und Karten beim ersten Auswärtsspiel unserer Europa-League-Historie kaufen konnten. Nichtsdestotrotz über 350 Öcken, weshalb ich doppelt dankbar bin, nur wenige Tage vorher Geburtstag gehabt und wohlhabende Eltern zu haben. Unser Flieger hat zwei Stunden Verspätung, und trotz der frühen Unzeit befinde ich mich mit „Zauberstaub“ von Fuffifufzich auf den Ohren bereits an einem Punkt, an dem das sogenannte Union-Frühstück (Bier und Brezel) einverleibt und die ersten Kippen weggeraucht wurden.
Und dann der Bruch. Ja, wirklich. Über 3.000 Fans unseres kleinen Köpenicker Vereins hatten sich am Bragaer Marktplatz verabredet, sich und den Einheimischen eine kleine Visitenkarte hinterlassen und sind daraufhin zum Stadion marschiert. Man vermutete bereits, dass es spannend werden dürfte, als die ersten Robo-Cops vor der ersten Reihe des Marschs aufkreuzten.
Und da wir an dieser Stelle eine kurze Einordnung vornehmen sollten: Nicht jeder Robo-Cop wirkt gleich und das Verhalten von Fans im Mob reagiert darauf recht sensibel. Es macht einen gewaltigen Unterschied, ob ein Fanzug von normalen Polizist*innen begleitet wird oder ob die Spezialkräfte bereits zu Beginn mit verschlossenen Helmen, Sturmmasken, gezückten Teleskopen und Schlagstöcken und überraschend großen Hartplastikschilden machen.
Es lässt sich erahnen, wie die Gemengelage in Braga war: Ein bunter Haufen vorfreudiger Menschen, die ihrem Verein über tausend Kilometer in die Ferne gefolgt sind, und eine portugiesische Polizei, die sich endlich mal wieder an auswärtigen Gästen ausprobieren darf. Ein abgekesselter erster Mob vor dem Einlass, dahinter noch mal mehrere hundert Fans, die nicht vor den Ultras reingegangen sind.
Und mittendrin ich, zwischenzeitlich erste Reihe, direkt an den Robo-Cops dran. „Was willst du, he?“ Etwas erstaunt gucke ich auf, und tatsächlich fängt der portugiesische Robo-Cop an, mich auf Deutsch zu beleidigen. Auf die Tatsache, dass er seinen Schlagstock weiter in meinen Bauch reindrückt, spreche ich ihn auf Englisch an: „Can you please put it down, that’s too hard, man.“
Ein belustigender Blick trifft mich, der Schlagstock bohrt sich noch härter in die Region knapp über meinen Bauchnabel. Wow, war das mal wieder zu erwarten.
Die Welt kann zuschauen, durch Videoaufnahmen die vielen kleinen Ungerechtigkeiten festhalten, aber Bullen bleiben nun mal Bullen.
Diese Autorität auf der Straße ist nicht kleinzukriegen, das müssen wir auch an diesem Abend so konstatieren. Mit diesen Gedanken folge ich meinen Freunden und finde auf der Tribüne sogar meinen Vater wieder. In der verträumten Vorstellung, dass wir beim Einlass alle dieselbe Situation wahrgenommen und erlebt haben, fange ich an, mich über das Erlebte auszukotzen. Aus Frust, aus Adrenalin, aus Wut. Weil Solidarität danach eine wichtige Erfahrung ist. Weil sich diese widerliche Autorität aus Gewalt und ausgerüsteter Überlegenheit formiert. Weil du nichts dagegen tun kannst, außer dich nicht provozieren zu lassen. Und was kommt zurück? „Jetzt entspann dich mal. So schlimm wars nicht und wir sind jetzt drin.“
Du bist dir sicher / Das Tal ist ganz weit entfernt /
Fußball ist als Live-Erlebnis zu einer Illusion dessen verkommen, was es eigentlich sein sollte. Ich habe bei so gut wie allen Auswärtsfahrten Drogenkonsum mitbekommen und mitgemacht. Egal, ob durch die Nase oder oral: Wir berauschen uns an unserer eigenen Bedeutsamkeit. Die Geisterspiele während der Pandemie haben es schließlich allen deutlich vor Augen geführt: Wir sind die Fans, wir sind der Verein und ohne uns geht hier gar nichts. Nur ist dieser Glaube nichts als eine selbstgefällige Illusion, die all das überdeckt, was doch so offensichtlich ist.
Wir reden über undemokratische Strukturen im Fußball und klatschen uns dennoch gemeinschaftlich ab, wenn ein windiger und vorbestrafter Finanzvolltrottel den Charlottenburger Verein aufgibt.
Wir reden über einen Fußball, der schon in der Ausbildungsmaschinerie bei Zehnjährigen keinen Platz mehr für Fehler zulässt und bei dem sich alle aufregen, wenn dann Vorwürfe der rassistischen Diskriminierung aufkommen. So einige weitere Unterdrückungsmechanismen – von sexualisierter Gewalt, von patriarchalen Strukturen bis hin zur erzwungenen Arbeit ließen sich in der heilen Fußballwelt erkennen und schließlich auch verändern – wenn wir denn wollten.
Du bist dir sicher / Alle lieben dich sehr
Illusion und Realitätsflucht sind nichts Neues, wem erzähle ich das? Eine Wiederkehr des Biedermeier, das sich in der Toskana wälzt und von nichts anderem schwärmen kann. Wo Gedanken keinen Wert haben und gesprochene Worte keine Rolle mehr spielen. Wo die Hoffnung sich bereits selbst aufgegeben hat. Ein Ort, an dem sich nichts verändert und alles so bleibt, wie es schon immer war.Â
Natürlich hört sich das falsch an. Wenn wir uns einer Illusion hingeben wollen, dann zeichnen wir ein verklärtes Bild, um aus der Gegenwart der Krisen zu entkommen. Es sind unsere kleinbürgerlichen Wünsche, die uns prägten und so zu einem Teil unserer Identität wurden. (Dieser Autor nimmt sich da nicht aus. Jedes Jahr findet er sich selbst in der Toskana wieder.)
Auch im deutschen Fußball erfährt die Illusion eine Renaissance: Eintracht Frankfurt gewinnt die Europa League, dominiert auf den Schultern zehntausender, zu allem Wahnsinn bereiten Fans. Und der Gedanke kommt auf, dass Union das diese Saison doch auch machen könnte ... Dann guckt man an einem Mittwochnachmittag auf die Kicker-Website und sieht den eigenen Verein auf dem ersten Platz der höchsten Männerspielklasse des Landes. Träume ich?Â
Bevor du gehst / Gib mir deinen Zauberstaub
Wohl eher nicht, denn die Illusion versperrt uns den Blick auf die Aufarbeitung und Einordnung der Ungerechtigkeiten, die wir erleben. Polizeigewalt, Repressionen, Hass von allen Institutionen und die Entfremdung zu der einen Sache, die doch für immer bestehen bleiben sollte.
Auch wir Fußballfans haben doch alle schon diesen befremdenden Böhmermann-Moment gefühlt. Wie beim Magazin Royale entdecken auch wir immer wieder Teile der Realität und sehen doch nie alles. Im Moment der Aufklärung entführt uns die Show bereits wieder zum nächsten aufregenden Programmpunkt. Die Erkenntnis bleibt unbeachtet auf dem Feld zurück.Â
Aber aus einer solchen Kritik erwächst nichts, was soll dabei auch sprießen? Das zarte Pflänzchen der Subversion erstickt an seiner eigenen Erde, weil der Kern so verfault ist. Statt Hoffnung auf bessere Zeiten und eine Abkehr von Ungerechtigkeit und Ungleichheit wächst nur die Illusion, dass das, was momentan ist, nun wirklich unabänderlich sein muss.
Der Sieg über die Geschichte und doch unsere kleine Flucht aus den Zwängen unseres Lebens. Die Illusion unserer bürgerlichen Gesellschaft – und sie zeigt sich im globalen Krisenmodus des Krieges wie im Umgang mit einem Sportgroßereignis in einem Land der gelebten Demokratieverachtung – ist der Tod jedweder humanistischen Perspektive, im Spiel wie im Ernst des Lebens.
Stellen wir diese Illusion in Frage, dann eröffnet sich uns eine Welt. Eine Welt, die uns entgegenruft:
„Ich bin veränderbar!“
Und in der ich immer noch Nase rümpfend durch die Bragas dieser Welt ziehen kann und mir denke: „Das ist zu schön hier, ich will mein Köpenick zurück.“