Er ist der, der gefragt wird, wenn es um Faktenwissen in Sachen Fußball und Union geht. Von Verlagen, die an Büchern über Union arbeiten, von Fans, von Union selbst. Er versenkt sich dann in Archive und taucht erst wieder daraus auf, wenn er herausgefunden hat, was er gesucht hat. Das kann alles mögliche sein: Ein Name, ein Datum, ein Ort. Der Wahrheitsgehalt einer Anekdote. Oder wie das Stadion An der Alten Försterei um 1920 ausgesehen hat, und zwar von hinten rechts.
Die Vereinsgeschichte recherchiert Gerald, seit er zu Union geht.
Da ist er ungefähr in der 9. Klasse. In der Stadtbibliothek nahe dem Alexanderplatz liest er noch als Jugendlicher alte Ausgaben der Fußballwoche, eine nach der anderen, Jahrgang für Jahrgang, ab 1966 rückwärts. "Weil ich wissen wollte, wer die Spieler sind, die im Programmheft stehen. Die Alten, die manchmal vorgestellt werden. Das war einfach so ein Hobby.“
An Union selbst hat ihn zuallererst der Name überzeugt. "Das hatte mit dem zu tun, was ich aus dem Fernsehen kannte. Wenn mein Großvater Abendschau gesehen hat, früher, dann waren da Tennis Borussia, Hertha BSC und die entsprechenden Gegner, während mir das Ganze mit Chemie und Motor und Sachsenring und Stahl irgendwie suspekt vorkam.“ Es war aber auch eine Haltung gegen die Kumpels aus der Klasse. „Ich bin für die anderen. Ich bin Unionfan.“ Da ist er noch nicht einmal im Stadion gewesen.
Das Spiel, das sein erstes Unionspiel hätte werden sollen, wurde abgesagt.
Ein Freundschaftsspiel gegen Teplice in der Winterpause, und die Alte Försterei tief verschneit. Keine untypische erste Begegnung. Ebenso wie das Spiel, das dann tatsächlich sein erstes wurde, eine Niederlage gegen Hansa Rostock. "Aber das hat mich nicht abgehalten.“ Das war in der Saison 78/79. Die Freundschaften, die in seinen ersten Unionjahren entstanden, halten bis heute. "Damals waren wir 16, 17, 18 – heute Anfang 50. Das hat das Leben mit geprägt, auf sehr angenehme Weise.“
Er sei nur einmal bei einer Auswärtsfahrt auf dem Bahnhof in Frankfurt/Oder für 2 Stunden weggesperrt worden, erzählt er. „Wegen Rauchens auf dem Bahnhof.“ Er durfte gehen, „kein Rädelsführer, kein Rowdy, und besoffen war ich auch nicht.“ Fußball ganz ohne Krawall. Beharrlich und zugewandt. Bis heute zählt er das 3:1 gegen Falkensee-Finkenkrug mit zu den wichtigsten Unionspielen. „Weil es aufstiegsentscheidend war.“ Eine Draufsicht, die aber nie die Details aus dem Blick verliert.
"Unser Club existierte in fünf Gesellschaftssystemen."
„Unser Club“, sagt er, „existierte in fünf Gesellschaftssystemen, wenn man die Traditionslinien bis 1906 zurückverfolgt.“ Diesen Kontext herzustellen und abzubilden ist ihm ein Anliegen. "Mich interessiert Zeitgeschichte und die Verknüpfung mit Sportgeschichte. Vereine sind immer viele Leute, keine Einzelschicksale. Eine repräsentative Menge, die zu etwas steht.“
Also forscht er nach, was die Leute bewegt hat, während um sie herum Geschichte passiert ist, an die wir uns heute oft nur ungenau als Teil des Schulunterrichts erinnern. „Nun habe ich gerade die DDR-Zeit sehr intensiv mitbekommen, und meine ganze Jugend war aber eben auch immer mit Union angefüllt. Dieses Zusammenspiel, was ist in der DDR gesellschaftlich passiert, nicht nur in meiner Zeit, sondern meinetwegen auch zur Kaiserzeit. Ich kann mich nicht erinnern, was ich in der Schule über die Weimarer Republik gelernt habe. Und über die Kaiserzeit. Kaiser Wilhelm hieß er. Dann gab´s einen Weltkrieg, dann gabs später noch einen, aber was haben Vereine in dieser Zeit getan? Was hat die Leute bewegt? Wie politisch war das? Sind sie über die Vereine in eine Nische gegangen und haben sich dem entzogen? Wenn man das an Union als Club festmachen, sich durch die Jahre krabbeln kann, dann ist das doch sehr schön! Das macht mir Riesenspaß.“
Vereinshistoriker wird er deshalb gelegentlich auch genannt, aber das scheint ihm übertrieben, trotz handwerklicher Überschneidungen. „Das erreicht eine akademische Ebene, der ich nicht gewachsen bin, die ich nicht in Anspruch nehmen kann und will. Darum bin ich mit dem Wort Chronist schon ganz zufrieden.“
"Eine Chronik führt jeder Verein, schon alleine, um saufen zu können."
Das Zusammenspiel von Fußball und Geschichte liegt für Gerald auf der Hand. „Gerade der Sport ist, nach kirchlichen Dingen, das bestorganisierte, was Erinnerungskultur betrifft.“ Eine Chronik, sagt er, führt jeder Verein, „schon alleine, um saufen zu können, Jahrestage zu feiern!“
Dass sich das auch gut verkaufen lässt, ist ihm bewusst. „Es ist ein merkantiles Feld.“ Das gilt natürlich auch für Union. Der Pokalsieg von 1968 ist jetzt 50 Jahre her. Das Ergebnis und die Besetzung sind bekannt. „Was wissen wir noch nicht?“, fragt sich Gerald und macht sich auf die Suche.
Er stellt Verbindungen her, die fast schon Detektivarbeit sind. „Der Vorbereitung und Organisation des 68er Pokalspiels gingen Sitzungen voraus, daran waren beispielsweise auch Konsum oder HO beteiligt, wegen Würstchen und Brause. Es ist anzunehmen, dass es ein Vorbereitungskommitee gab, es gab Verteiler für die Sitzungsprotokolle.“
Die versucht er aufzuspüren, um organisatorische Hintergründe zu klären. Als Austragungsort waren zunächst Cottbus und Dessau vorgesehen, tatsächlich wurde in Halle gespielt. Außerdem wurde das Spiel vom 8.6. auf den 9.6. verschoben. Gerald versucht herauszufinden, warum das so war. Oder warum es kein Programmheft gab.
Die Protokolle sind heute allerdings überall verstreut.
„Der DTSB hätte was haben müssen, hat er aber nicht.“ Er sucht am Amtsgericht Charlottenburg, im Bundes- und Landesarchiv. Eigenes Material bei Union gibt es wenig. Ein Teil ging im Zuge der Wende verloren, ein weiterer ist Teil beim Wassereinbruch 2014 im Geschäftsstellenkeller zerstört worden.
Tradition ist für den Fußball wichtig.
Sie gilt als Wert an sich. Heroisierung spielt eine Rolle, aber auch Gemeinschaftssinn. "Das ist ja auch eine Verabredung, die man da miteinander trifft. Nicht nur zum Spiel. Man verortet sich in der Gemeinschaft. Wir gehen zu Union.“
Und so lässt sich das, was Gerald tut, eben auch beschreiben: Ein Baumeister, der dieser Gemeinschaft ein Fundament gibt. Dazu sammelt und ordnet er, scannt und archiviert, lässt historisches Material restaurieren und sichert, was ihm wichtig erscheint. Für ein zukünftiges Museum etwa.
„Ich bin auf eine Art auch Erbschleicher“, sagt er, weil er Leute bittet, ihre Sammelstücke, die für das Archiv von Wert sind, zur Verfügung zu stellen. „Ein Museum ist keine Fotoausstellung. Wir brauchen Objekte. Wir haben ja nicht so viel gewonnen.“ Objekt einer Ausstellung kann auch ein Alltagsgegenstand sein, mit dem eine Geschichte verknüpft ist. Die Trophäensammlung allein findet Gerald nicht so wichtig.
Zu zeigen und zu erzählen gibt es vieles, glaubt er. „Ich möchte auf die Zeitgeschichte eingehen und eine Zeit erläutern am Beispiel des 1.FC Union. Zum Beispiel der FDGB – es weiß doch kein junger Mensch mehr, was das war. Das hat einen Hintergrund, der muss erläutert werden, sonst geht es verloren.
Ich vermute, die Hälfte der Jüngeren denkt, FDGB ist so wie DFB.“ Eine strukturierte Darstellung wünscht er sich, eine Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern aus den Bereichen Sport, Geschichte, Politik und Museum. „Ich bin vielleicht ein ganz ordentlicher Kurator.“ Doch, das ist er ganz sicher. Und dazu der sorgsamste Chronist, den ein Fußballverein haben kann.