Polio, Masern und AIDS

Teil II - Seuchenschutz und Impfen in der DDR
Eine ägyptische Steintafel aus dem 15. Jahrhundert v. Chr. zeigt einen jungen Mann mit deformiertem Bein und einer Krücke in der Hand. Medizinhistoriker halten diese Abbildung für den ältesten Hinweis auf die Erkrankung Poliomyelitis: Kinderlähmung. Der griechische Arzt und Philosoph Hippokrates (460–370 v. Chr. – er gilt als „Begründer“ der Medizin) beschreibt „Klumpfuß-Deformationen“ und gibt damit anatomische Hinweise auf diese Krankheit.

Im Jahre 1840 beschrieb der Mediziner Jakob von Heine mit wissenschaftlicher Genauigkeit – aber noch ohne genaue Kenntnis über den infektiösen Charakter – die Poliomyelitis. Der Begriff „Kinderlähmung“ ist irreführend, denn diese Infektionskrankheit beschränkt sich keinesfalls auf bestimmte Altersgruppen, sondern befällt Menschen auch im Erwachsenenalter. Eines der bekanntesten Opfer war der amerikanische Präsident Theodor Roosevelt, der 1921 im Alter von 39 Jahren an der Infektion erkrankte.

In den meisten Fällen verläuft Polio mild und grippeähnlich. Aber wenn das Virus in das Zentralnervensystem vordringt, kommt es zu Lähmungen und zu einem Abbau der Körpermuskulatur. Warum dies nur einem Prozent der Infizierten geschieht, während der Rest keine Symptome oder nur Fieber bekommt, ist bis heute ein Rätsel. Vermutet werden unterschiedliche bösartige genetische Faktoren des Poliostammes.

Obgleich die Virenstämme der Poliomyelitis uralt sind, kam es in Europa erst Ende des 18. Jahrhunderts zu gefährlichen epidemieartigen Infektionen und dies vor allem bei Kindern. Auch Anfang des 20. Jahrhunderts wüteten weltweit unzählige Polioepidemien. Weshalb Polio zu dieser Zeit zu einem so großen Problem wurde, ist unverständlich – insbesondere: weil die allgemeine Hygiene sich verbesserte und der Wohlstand stieg, was eine fäkal-oral übertragene Krankheit eigentlich eher zurückdrängen sollte.

Die erste „Eiserne Lunge“ Berlins, aufgestellt im Klinikum Berlin Buch.
Die erste „Eiserne Lunge“ Berlins. /// Foto: Maulbär-Archiv

Wirksame Medikamente zur Behandlung einer Polio-Infektion gab und gibt es bis heute nicht. Viele Patienten mussten den Rest ihres Lebens mit Krücken, einem Korsett oder Beinschienen leben. Das schlimmste Leid erlitten Patienten mit Atem- und Schluckbeschwerden, deren Leben ständig auf der Kippe stand. In den 30er Jahren wurde für sie die „Eiserne Lunge“ erfunden: eine große metallene Röhre, in die sich der Patient zur Beatmung legen muss.

In den 1950er Jahren entwickelte in der USA der Virologe Albert Sabin (eigtl. Saperstein,1906–1993) einen Impfstoff, der in Zusammenarbeit mit dem sowjetischen Virologen Tschumakow 1959 erstmalig die heute als „Schluckimpfung“ weltweit bekannt und die Poliomyelitis zu einer eher seltenen Krankheit gemacht hat. Dennoch kommt es hin und wieder zu regionalen Ausbrüchen, insbesondere wenn Kinder aufgrund von Kriegen nicht geimpft werden können.


Die spinale Kinderlähmung (Poliomyelitis)

Die erfolgreiche Bekämpfung und schnelle praktische Eliminierung dieser heimtückischen Erkrankung gehört zu den beeindruckenden und überzeugenden Beispielen für den Sinn einer konsequenten umfassenden Impfung einer bedrohten Bevölkerung.

In den 1950er Jahren flackerte die Erkrankung in den USA und auch in Deutschland immer wieder auf. Zwar half die sogenannte „Eiserne Lunge“ die Todesfälle durch Ersticken zu verringern, aber viele Patienten, vor allem Kinder, erlitten bleibende Lähmungen der Gliedmaßen. 1953 erkrankten in der DDR 2662 Menschen, es starben 141. 1955 traten 968 Fälle. In Vorbereitung einer befürchteten nächsten Poliowelle richtete die DDR mit großer Kraftanstrengung spezielle Kliniken, so in Berlin-Buch, mit „Eisernen Lungen“ ein, wie im aktuellen Charité-Film eindrucksvoll gezeigt wird. Doch dann brachte ein 1955 in den USA durch Jonas Salk entwickelter, zu injizierender Impfstoff erste Erfolge.

Die endgültige Wende im Kampf gegen Polio kam mit dem 1959 gemeinsam von amerikanischen und sowjetischen Ärzten als Schluckimpfung entwickelten Impfstoff. Dieser konnte schnell produziert werden und stand auch in der Sowjetunion und osteuropäischen Ländern ausreichend zur Verfügung. In der DDR wurde ab 1960 die Schluckimpfung als Pflicht verabreicht, in Zittau begann die Aktion. Der Erfolg sprach für sich. Die Polio-Welle blieb aus. 1962 wurde in der DDR der letzte Fall einer Polioerkrankung gemeldet. In der Bundesrepublik erfolgte etwa zwei Jahre später die Umstellung auf die Schluckimpfung mit ebenso gutem Erfolg.


Der Umgang mit Masern

Die Masern sind eine sehr ansteckende und wegen ihrer tödlichen Komplikationen gefürchtete Kinderkrankheit. Ab 1963 stand ein wirksamer Impfstoff zur Verfügung, und 1966 wurde in der DDR die Impfplicht eingeführt. Von Mitte der 60-er Jahre sank die Zahl der Fälle von über 50.000 auf nurmehr 1493 im Jahr 1975. Doch bei der Masernimpfung ist ein sehr hoher Durchimpfungsgrad von möglichst mehr als 95 Prozent entscheidend.

Als 1980 wieder 28 745 Fälle in der DDR registriert werden mussten, zeigte sich, dass Nach- und Wiederholungsimpfungen notwendig sind. Dank der aus dieser Erkenntnis gezogenen Konsequenzen und eines besseren Impfstoffs waren 1989 in der DDR nur noch 45 Fälle zu verzeichnen. Auch nach der Wiedervereinigung blieb in den neuen Bundesländern die Erkrankungshäufigkeit bei Masern deutlich unter der der alten Bundeländer. Das Robert-Koch-Institut RKI führte dies 2009 auf den höheren Durchimpfungsgrad und auch auf eine bessere Impfbereitschaft zurück.


Die Bekämpfung von AIDS

1981 erstmals wissenschaftlich beschrieben, wurde die durch das HI-Virus ausgelöste Immunschwächekrankheit AIDS zuerst in den USA und etwas später in Westeuropa bekannt. Auch in der DDR bildete sich auf Initiative unter Leitung des Chefs der Hautklinik der Berliner Charité Prof. Niels Sönnichsen bereits 1983 eine AIDS-Beratergruppe und wurde zugleich Teil der ständigen Regierungskommission zur Bekämpfung von Epidemien unter Leitung des Gesundheitsministers. Dies erfolgte nach kurzem politischem Zögern, weil in der DDR und in osteuropäischen Ländern anfänglich AIDS nicht aufzutreten schien und weil in der Bundesrepublik eine mediale „Begleitmusik“ – die Medien sprachen von „Schwulenpest“ – diese Krankheit stark politisierte.

In der Expertengruppe waren u.a. der Virologe Prof. Konstantin Spies als zuständiger stellvertretender Gesundheitsminister, der Impfspezialist Prof. Sieghart Dittmann (bis 2000 Chef für Infektionskrankheiten und Impfen beim Europäischen WHO-Büro in Kopenhagen) und der Immunologe Prof. Rüdiger von Baehr tätig. Persönliche wissenschaftliche Kontakte zu den Forschern in den USA und Westeuropa wurden geknüpft, eigene Forschungen angestrengt, Kongresse besucht, mit der WHO fanden Konsultationen statt. und 1988 gab es ein Regierungsabkommen zwischen DDR und Bundesrepublik mit dem Ziel der Bekämpfung von AIDS.

Mit einer in der Beratergruppe abgestimmten Konzeption wurden in der DDR zur Mitte der 1980er Jahre AIDS-Konsultationszentren in allen 15 Bezirken eingerichtet, in der Regel in Hautkliniken. Ihre Aufgabe bestand in der Beratung, Diagnostik, Therapie und in der Fortbildung des Personals. In Berlin stellte sich beispielsweise die Infektionsklinik im Krankenhaus Prenzlauer Berg unter Renate Baumgarten zur Verfügung.

Ab 1985 gab es einen HIV-Test, und ab 1986 konnten in der DDR alle Blutkonserven und Samenspenden getestet sowie schließlich 1 Million freiwillige Blutuntersuchungen realisiert werden. Kein Land hatte zu dieser Zeit einen so großen Teil der Bevölkerung untersucht. Nach der Formel

„Frühzeitige Tests heißt frühzeitige Bekämpfung“

konnten drei von vier Infizierten erkannt werden; lediglich ein Viertel der Aids-Infizierten wurden durch Selbstmeldung erkannt.

Broschüre „AIDS – Was muß ich wissen? Wie kann ich mich schützen?“ von Niels Sönnichsen
Foto: Maulbär-Archiv

Angesichts der AIDS-Raten z. B. in Westberlin erschienen neben der sofort eingeleiteten gezielten medizinischen Arbeit auch Maßnahmen zur Aufklärung und Information der Bevölkerung als dringend notwendig. Sie begannen mit einem Interview mit dem Mediziner Sönnichsen in der beliebten und auflagenstarken Zeitschrift „Wochenpost“. Sönnichsen verfasste auch eine Broschüre „AIDS – Was muß ich wissen? Wie kann ich mich schützen?“ (1. Auflage 350.000), die Anfang 1987 erschien und den damaligen Wissenstand verständlich erläuterte. Die überfüllte Sonntagsvorlesung an der Charité zu AIDS im Februar 1987 wurde fast legendär.

Vorträge durch die Gesellschaft zur Verbreitung wissenschaftlicher Kenntnisse „URANIA“, den Kulturbund und andere Organisationen sowie Informationen über das Fernsehen folgten. Kirchen organisierten Vorträge und gaben homosexuellen Menschen Raum. Für die Schulen, Lehrlinge und Studenten wurden verbindliche Unterrichtstunden zu AIDS durchgeführt. Am 1. Dezember 1988, dem ersten „Welt-AIDS-Tag“ der WHO, eröffnete eine viel beachtete Ausstellung im Deutschen Hygienemuseum in Dresden. Es fungierte seit 1987 als beauftragtes Institut für die AIDS-Aufklärung in der DDR. Als Motto wurde der im Westen eingeführte aktivierende Satz „Gib AIDS keine Chance!“ verwendet.

In der DDR spielten zudem sogenannte Hochrisikogruppen bezogen auf AIDS wie eine Fixer- und Drogenszene und auch gewerbsmäßige Einrichtungen für Schwule praktisch keine Rolle. Trotz der auch in der DDR vor allem in ländlichen Gegenden noch im allgemeinen verheimlichten Homosexualität fanden die schwulen Männer allmählich Vertrauen zur Berliner Hautklinik und zu anderen Beratungsstellen, die sie untersuchten und testeten. Eine anfänglich personenbezogene Meldepflicht der Infizierten wurde später wieder aufgehoben.

So wurde Schritt für Schritt ein Gesamtkonzept für die AIDS-Bekämpfung umgesetzt. 1987 konnte zu Recht festgestellt werden, dass AIDS in der DDR mit 14 Infizierten und zwei Todesfallen (Bundesrepublik: 682) keinen Massencharakter hatte. Der erste Fall war 1986 diagnostiziert worden. Ende 1989 waren 239 Menschen (davon 152 „ausländische Mitbürger“) in der DDR infiziert, 19 mit Vollbild erkrankt, es gab neun Todesfälle. Die medizinisch begründeten Tests und Nachforschungen wirkten und auch die vielfältige, in dieser Form für DDR-Verhältnisse ungewöhnlich offene und sehr sachliche Information und Aufklärung der Bevölkerung zeigte offenbar Wirkung.

Zum Ende der DDR gab es auch Kritik an ihrem Vorgehen in der AIDs-Bekämpfung. Ihr Kern war die in der DDR bis dahin praktizierte politische und öffentliche Tabuisierung der homosexuellen Bevölkerungsgruppe sowie die mangelnde Akzeptanz von Selbsthilfegruppen im Gesundheitsbereich. Dazu zählte beispielsweise ein 1987 von schwulen Männern und lesbischen Frauen gebildeter DDR-weiter AIDS-Arbeitskreis, die einen an die Verhältnisse in der Bundesrepublik angelehnte gezieltere spezielle Hilfe und Beratung homosexueller Menschen im Umgang mit AIDS einforderte.

Der SPIEGEL, der die DDR stets sehr polemisch kommentiert hatte, stellte Ende 1989 fest: „Es gibt kein zweites Land, das die bedrohliche AIDS-Situation vergleichsweise so erfolgreich gemeistert hat wie die DDR.“ Dem ist auch heute nicht zu widersprechen. Zwar traten nach dem Ende der DDR auch in den neuen Bundesländern mehr AIDS-Fälle auf; die hier gemeldeten Erkrankungen lagen jedoch auch 2008 immer noch deutlich unter dem Bundesdurchschnitt.



Titel des Historikmagazins „Die Mark Brandenburg“
Dr. Heinrich Niemann wurde am 12. Oktober 1944 in Reckwitz/Sachsen geboren. Nach dem Abitur absolvierte er eine Lehre als Motorenbauer bei ROBUR in Zittau. Es folgte ein Medizinstudium an der Charité Berlin. Er promovierte über die internationalen Tendenzen der Medizinischen Hochschulbildung und wurde Facharzt für Sozialhygiene.

Elf Jahre war er im Ost-Berliner Gesundheitswesen als Facharzt tätig. Auf politischer Ebene vertrat Heinrich Niemann in den 1980er Jahren die DDR-Sektion der Internationalen Ärzteorganisation gegen den Nuklearkrieg, IPPNW.

Mehr zum Thema Seuchen gibt es in der neuen Ausgabe der Mark Brandenburg.

Den ersten Teil der Serie „Seuchenschutz und Impfen in der DDR“ gibt es hier.


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