Die Geschichten beginnen dann, in meinem Kopf ineinander zu fließen. Nehmen wir die Stadt Berlin, die sich auf jeder Berlinale durch etliche Filme zieht. Dieses Mal entsteht der Eindruck, sie würde hauptsächlich von queeren Künstler/innen bevölkert, die hier ihre Heimat gefunden haben.
Beginnen wir mit der Doku „Baldiga - Entsichertes Herz“, in der man das sexuelle, queere Berlin der 80er Jahre durch die Augen des Künstlers, Fotografen und Aktivisten Jürgen Baldiga entdeckt, der wie viele andere schließlich elend an AIDS verreckte. Zugegebenermaßen sieht man hier weniger Berlin selbst, als vielmehr die Penisse dieser Stadt.
Auch „Teaches of Peaches“ über die aus Kanada stammende Sängerin und Performerin Peaches spielt zwar zu großen Teilen in ihrer Wahlheimat Berlin, doch wie bei Baldiga erleben wir eher die non-konformistischen Künstler/innen der Stadt, die sich Haare abrasieren, Brust-Kostüme schneidern und Choreografien einstudieren.
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Die dritte queere Künstlerin auf der Berlinale ist Libuše Jarcovjáková in „Ještě nejsem, kým chci být (I’m Not Everything I Want to Be)“, die zwar zu Ost-Zeiten in Prag aufwuchs, aber in ihren Abstechern nach Berlin auch den West-Teil vor dem Mauerfall ablichtete. Alle drei Protagonist/innen könnten auch in den jeweils anderen Filmen auftauchen.
Das ist das Schöne auf so einem Festival, dass über den einzelnen Film hinaus neue Zusammenhänge und ganze Welten sichtbar werden. Dass Berlin ein Zufluchtsort für an den Rand gedrängte Menschen aus aller Welt ist, die einfach nur lieben und leben wollen, ist dann kein Klischee mehr, sondern wird in der Summe der Filme sichtbar.
Und gleichzeitig ist auf dem Festival eine andere Berliner Realität spürbar, in „Sieger sein“ oder „Ellbogen“. Dort stehen jeweils junge Mädchen im Mittelpunkt, deren Familien oder auch erst sie selbst nach Deutschland eingewandert sind. Und die in Berlin ihre Heimat noch finden müssen oder auch nie finden werden.
Die eine stammt aus dem syrischen Rojava und kämpft sich durch Fußball in die Gemeinschaft ihrer Berliner Schule hinein. Die andere hat türkische Eltern, ist in Berlin geboren, muss aber nach gescheiterter Jobsuche und einem tragischen Vorfall fliehen, nach Istanbul.
Wo wir bei der nächsten Stadt wären, der regelmäßig auf der Berlinale ein Denkmal gesetzt wird. Nicht nur in der Panorama-Eröffnung „Crossing“ reisen die Protagonist/innen auf der Suche nach einer trans Frau in die türkische Hauptstadt und verlieren sich dort in einer neuen Freiheit. Sondern eben auch im deutschen Spielfilm „Ellenbogen“, wo die Teenagerin Hazal sich in Istanbul versteckt. So diktatorisch Präsident Erdogan sein Land regieren mag, die Stadt Istanbul mit all ihrer Subkultur bekommt er nicht gezähmt. Und man will sofort mit der Fähre über den Bosporus und einen Çay trinken, so malerisch die Bilder, die keine Politik je kaputt bekommen wird.
Wenn man mich jetzt also fragt, was war dein Lieblingsfilm, dann versuche ich erst gar nicht mehr, mich an einen einzelnen Film zu erinnern. Sondern sage einfach: Berlin.