Ein schwarzer Flüchtling steigt also aus einem Koffer und zieht bei einer reichen Londoner Familie ein. Weil es ein Porno ist, muss diese Gegebenheit nicht näher begründet werden. Nun nimmt der extrem gut gebaute Mann nacheinander erst die Hausangestellte und dann alle vier Familienmitglieder durch, die Kamera schaut detailreich zu.
Kolonisiere den Kolonisierer
Techno-Beats treiben die trashige Handlung voran und untermalen Kapitel-Überschriften sowie politische Botschaften, in denen es um Sex und Befreiung geht. Zum Beispiel „Kolonisiere den Kolonisierer“, während der Schwarze den weißen Familienvater rannimmt. Eine Art queer-postkolonialer Rache-Porno.
Nun nimmt der extrem gut gebaute Mann nacheinander erst die Hausangestellte und dann alle vier Familienmitglieder durch, die Kamera schaut detailreich zu.
Nun läuft dieser Polit-Porn in Panorama, der neben dem Wettbewerb wohl wichtigsten Sektion. In Panorama konkurrieren alle Filme um den renommierten Publikumspreis. Jeder kann nach einem Screening auf Postkarten abstimmen, wie ihm oder ihr die einzelnen Filme gefallen. Und am Ende gewinnen ein Spielfilm und eine Doku die Auszeichnungen.
Da „The Visitor“ vor allem von Fans des bekannten queeren Filmemachers Bruce LaBruce besucht wird, die ihn während der Premiere frenetisch bejubeln, ist mit guten Bewertungen zu rechnen. Falls der Film gewinnt, bahnt sich ein spannendes Sozial-Experiment am letzten Berlinale-Tag an. Dann werden die Preise verliehen und die Gewinner-Filme erneut gezeigt, unbescholtene Berliner/innen haben bereits im Voraus Tickets erstanden. Und wären unverhofft in diesem Streifen gelandet.
Schon bei der Premiere sind nach und nach vor allem ältere Herrschaften leicht empört aus dem Saal geflohen. Vielleicht, weil irgendwann nicht nur der schwarze Besucher mit den einzelnen Familienmitgliedern schläft, sondern der Vater auch mit Tochter und Sohn. Es wäre jedenfalls spannend, wie viele Menschen bis zum Ende durchhielten.
Boykott der Co-Autorin
Wer bleibt, hätte die Chance auf ein erneutes Spektakel, wie bei der Premiere. Dort verkündet der Regisseur, dass eine Co-Autorin die Berlinale boykottiert, weil ihr Deutschland zu Israel-freundlich sei. Das ganze Filmteam und einige im Publikum klatschen, und man fragt sich zwangsläufig: Wenn ihr das so gut findet, warum seid ihr dann gekommen? Seid ihr nicht gerade der lebende Beweis dafür, dass man in Deutschland frei diskutieren und mit Kunst provozieren darf? Was wäre den Palästinenser/innen geholfen, im Übrigen vor allem den queeren, die in Gaza vor dem Krieg von Hochhäusern gestürzt werden, wenn dieser Film hier nicht gelaufen wäre?
Ich meine, man könnte den Spieß ja auch einmal umdrehen. Und fragen, warum ein Filmteam komplett ohne schwarze Person einen Film produziert, in dem ein Schwarzer im Mittelpunkt steht. Es werden post-koloniale und post-imperialistische Botschaften gefeiert, und doch beutet der Film letztlich den attraktiven Körper und die Potenz seines schwarzen Hauptprotagonisten aus.
Persönlich finde ich das nicht schlimm, Widersprüche gehören nun einmal dazu. Und besonders Weiße sollten sich mit diesen Themen beschäftigen und gern solche Filme machen. Aber wer sich als moralisch rein feiert und aus jedem Stück Kunst einen politischen Akt macht, der muss sich solche Gegenfragen gefallen lassen.