Ich muss ausholen, um das zu erklären: Bei der Berlinale laufen jede Menge Dokumentarfilme. Heute war ich zum Beispiel in „Stams“, so heißt ein Skigymnasium in Tirol. Der Regisseur begleitet darin die jungen Athletinnen und Athleten durch ein Schul- und Wettkampfjahr voller Entbehrungen, Erfolge und Verletzungen.Â
Es entfaltet sich eine Sport-Maschinerie, in der die Enttäuschung der Vielen eingepreist ist, um die wenigen Diamanten zur Perfektion zu schleifen. Für mich ist damit nicht nur ein Porträt der sportlichen Eliteförderung entstanden, sondern unserer Leistungsgesellschaft insgesamt. Großes Kino, das nicht nur auf ein Festival, sondern in die Wohnzimmer gehört.
Oder „Vergiss Meyn Nicht“ über Steffen Meyn, seine 360-Grad-Helmkamera und den Tod als maximalen Preis des Aktivismus. Meyn fällt 2018 bei der Räumung des Hambacher Forsts von einer Holzbrücke, seine Kamera landet fast schon pietätvoll einige Meter neben ihm.Â
Mit genau dieser Aufnahme, wie Polizei und Rettungskräfte zu ihm eilen, startet der Film. Drei Studienfreunde erkämpfen zusammen mit den Eltern das Material, das von der Staatsanwaltschaft gesichert wurde, und entwickeln daraus einen atemraubenden Einblick in die Seelenwelt des Klimaaktivismus. Was Steffen Meyn als Studienprojekt begonnen hat, wurde tragischerweise durch seinen Tod zu einem Dokument deutscher Zeitgeschichte.Â
Ob das jemals zu einer vernünftigen Sendezeit im deutschen Fernsehen zu sehen sein wird? Man darf es bezweifeln.Es ist bizarr, dass deutsche Filmförderungen und Sendeanstalten zwar viel geilen Scheiß fördern, ihn dann aber nachts im Programm und unter Wert in Mediatheken verstecken. Der Grund dafür ist, dass man den Leuten den Konsum solcher Stoffe schlicht nicht zutraut. Wenn man im Fernsehen Dokumentationen für die Prime Time entwickelt, wird in der Regel ganz anders gearbeitet. Filme bekommen im Unterschied zu den hier beschriebenen Beispielen einen Sprechertext. Eine Art allwissender Gott treibt pseudo-neutral die Handlung voran, erklärt jeden einzelnen noch so banalen Schritt der Geschichte. Subtiles, Botschaften zwischen den Zeilen, Raum für Zweifel, all das kann sich in deutschen Fernseh-Dokus selten entfalten. Ein Bild darf nicht stehen, es muss alles immer in Bewegung sein. Das liest sich vermutlich sehr anklagend, verletzend. Aber ich mache das in meinen Filmen ja selbst so. Ich habe es so gelernt. Es ist natürlich der Druck der Quote, der für Angst bei Programm-Planern, Redaktionen und Autorinnen sorgt. Wenn man herumzappt, muss die Erzähler-Stimme einen sofort an die Hand nehmen. Nur muss man die Hand halt auch mal loslassen, wenn man erwachsen werden will. Moderne Reportage-Formate auf Youtube und einzelne Highlight-Dokus im Fernsehen zeigen ja, dass es auch anders geht. Und die Dokus auf der Berlinale sorgen nicht nur bei wenigen Cineasten für Begeisterung, sondern da sitzen ganz normale Berlinerinnen und Berliner in den Reihen. Sind die Leute vielleicht schlauer, als sich Programm-Macher von ARD und ZDF das meist denken? Ist der 65-jährige Hans auf dem Sofa wirklich so doof, dass wir ihm mit Bild und Text erklären müssen, dass ein Protagonist durch das Betätigen der Türklinke in den Nachbarraum gelangt - oder können wir nicht einfach mal bildlich springen? Wer seinem Publikum nichts Anspruchsvolles vorsetzt, hält dessen Ansprüche flach. Wenn du deiner Zuschauerin keine Flügel gibst, wird sie auch nicht fliegen lernen.