Ein Tag hat sich ins Gedächtnis gebrannt, mit guten und schlechten Augenblicken in der Summe, von historischer Bedeutung und Bedeutung für mich, von dem ich stolz behaupten kann: Ich war dabei. Ich habs miterlebt. Und da ist er, der Tag in meinem Leben, den ich nie vergessen werde, vom Morgen bis zum Abendvollrausch. Man nennt ihn den Schicksalstag der Deutschen. Kein zweites Datum in unserer jüngeren Geschichte, an dem sich bedeutende Ereignisse so häufen wie am 9. November. 1919, 1923, 1938, 1948. Es war der 9.11. 1989, der mein Leben nachhaltig prägen sollte.
Schon früh nervte mich die Mauer
Beim S-Bahn fahren, beim Blick vom Fernsehturm, der Westen war zum Greifen nah und doch fast 50 Jahre entfernt. Erst als Rentner durfte man die DDR ohne Folgen verlassen. Es begann im Sommer 89, als ich mich ernsthaft damit beschäftigte, diese Zeit stark zu verkürzen. Ein Super-Sommer, mit Sonnenschein von Juni bis September.
Ich hatte meine Lehre beendet, der Urlaub stand vor der Tür. Die Reiseziele in der DDR waren limitiert. Mein Geldbeutel gab auch gar nicht soviel her, also reiste ich per Freifahrtschein mit der Reichsbahn, meinem damaligen Arbeitgeber, nach Warnemünde, träumte mich in den Kurswagen nach Kopenhagen und gab mich am Ostseestrand den Freuden des Lebens hin. Und dem Alkohol. Und den Weibern, die waren damals noch gratis.
Wasser ist zum Waschen da. Diesem Motto folgend, stürzte ich mich, so oft ich konnte, in die Fluten der See. Leider hatte ich im Vollrausch vergessen, mich meiner Kleidung zu entledigen und weil man damals alles, was man besaß am Leibe trug, hatte ich auch meinen Personalausweis dem Waschgang unterzogen.
Das Passfoto in diesem fast unwichtigen Dokument verlor stark an Kontur, das erschwerte ein Wiedererkennen meiner Person doch deutlich. Als dieser schöne Sommer sich dem Ende neigte, verließen viele meiner Freunde und Freundinnen das sozialistische Kleinod über die Volksrepublik Ungarn, über die Botschaften der BRD in Warschau und Prag. Ich muss zugeben, wenn es um Behördengänge geht, dann tue ich mich sehr schwer.
Da hat sich bis heute leider nicht viel geändert. Man kann sagen, dass ich das Schicksal bis auf Ìs Äußerste herausfordere, nicht immer oder eigentlich nie zu meinem Vorteil. Um meinen Freunden nach Budapest, Prag oder Warschau zu folgen, hätte es eines neuen Personaldokuments bedurft.
Mach ich dann gleich morgen
Wer mich kennt, der weiß, das morgen heute noch nicht war und gestern mindestens 3 Tage zu spät. Ich versuchte erst einmal, das Land auf unorthodoxe Weise zu verlassen. In einer Friedrichshagener Kneipe lernte ich einen Bekannten meines Bekannten, dem die Flucht gelungen war, kennen. Ich kannte einen, der einen kannte... Mit dieser Kneipenbekanntschaft ging es volltrunken im schrottreifen Polski-Fiat in Richtung deutsch-deutsche Grenze.
Völlig vom Suff vernebelt, folgte ich meinem neuen Bekannten blind. Mit einer Malerleiter ausgerüstet, schlichen wir in ein Waldstück, in dem wir Grenznähe vermuteten, verabredeten Aussagen für den Fall, das wir geschnappt worden wären. Langsam ernüchternd verließ uns der Mut und wir machten kehrt.
Wer klaut, kriegt keine Tüte!
Ein paar Tage später fasste ich mir ein Herz und beantragte einen neuen Ausweis und gleich ein Visum für die Ausreise nach Ungarn.
Gut Ding will Weile haben
Termin für die Ausgabe der Dokumente war der 10.11.89. Mit einem Freund wurden Flug-Tickets nach Budapest geordert, Reisedatum war der 13.11. Man fragte uns eindringlich, ob wir Hin- und Rückflug wollten. In den Tagen nach der Antragstellung überschlugen sich dann die Ereignisse.
Honecker musste seinen Hut nehmen, man ließ die in der Botschaft verbliebenen DDR- Bürger ausreisen und dann, als alle Gefahr gebannt war, ließ man das Volk am 4.11. sogar demonstrieren. Ein paar Tage später, am Abend des 9., verlas dann Schabowski seine weltberühmte Note.
Noch nicht ganz überzeugt vom Gesehenen, traf ich mich wegen der Gewissheit mit Freunden. Unter denen waren auch mein heutiger Schwipp-Schwager und meine Fraufreundin. Alle wussten um meine Pläne und Radi spottete, er wäre noch früher im Westen als ich. Der Morgen des 10. November brachte dann auch mir Gewissheit und zu allem überfluss traf ich Radi, der zum Beweis eine Westberliner Zeitung mitgebracht hatte. Die Mauer war offen.
Trotz aller Liederlichkeit wohnt mir Pflichtbewusstsein inne und so absolvierte ich erst meine Schicht im Stellwerk. Personal war knapp, die meisten Kollegen schon im Westen. Deshalb schoben wir Verbliebenen Sonderschichten. Als ich um 2:00 Uhr Feierabend hatte, ging es zur Meldestelle der VP, um den begehrten Ausreise-Stempel zu holen. Dort war eine Riesenschlange.
„Den Stempel kannste auch an der Mauer bekommen.“
So sagte man mir. An meinem unterbelichteten Lichtbild scherte sich im Freudentaumel niemand und so verließ ich die DDR ganz Inkognito. Was ich dann erlebte, das würde Seiten in diesem Heft füllen: BRD-Bullenstaat und Wer-klaut- kriegt-keine-Tüte waren die Parolen, die ich von meinem ersten Tag in Freiheit mit nach Hause brachte. Das ist doch schon mal was, oder?