Wie unverschämt

Tag 1 der 73. Berlinale 2023
Machen wir uns doch nichts vor. Bei einem Filmfestival laufen ein paar Filme, aber alle reden übers Essen. Weil selten Zeit für eine gesittete Mahlzeit bleibt, müssen Notlösungen her. In meinem Fall sind es beim ersten Kinobesuch die vegetarischen Mühlen Würstchen.

KI-Illustration von Björn Hofmann

Das Problem ist, die schmecken nicht nur wie echte Wiener. Sondern sie riechen auch so wie Wiener und sie sehen auch so aus wie Wiener. Ich nahm also eines der sechs Würstchen aus der Packung, schloss diese sofort und ließ sie in den Rucksack verschwinden.

Getrieben von der Angst, das woke Berlinale-Publikum würde mich deswegen für einen sittenlosen Fleischesser halten, legte ich gut sichtbar die vegetarisch-grüne Plastikfolie der Verpackung auf meinen Kinosessel. Auch wenn es nicht so ausschaut: Kein Fleisch!

Ich schämte mich dennoch. Aber es war nun mal keine Zeit für ein richtiges Abendessen und im REWE fielen mir die Dinger halt irgendwie in die Hände.

Scham vergeht bei der Berlinale jedoch recht schnell. Man geht auf das WC, schaut sich eine der dreckigen Toiletten an und wie einige Männer ohne Händewaschen den Raum verlassen. Es ist ja gemeinhin so, dass diejenigen Leute, die am seltensten ein Klo putzen, dieses am dreckigsten hinterlassen. Und dann geht es wieder mit der Scham und man kann sich noch ein vegetarisches Würstchen reinschieben.

Foto: Nico Schmolke

Einen Film habe ich auch noch gesehen und darin wird tatsächlich geputzt. Die Ehefrau des Hauptprotagonisten von „She came to me“ leidet unter Reinlichkeitswahn und obwohl sie eine Reinigungskraft einstellt, packt die hauptberufliche Psychotherapeutin selbst mit an, bevor sie später einen Zusammenbruch erleidet, weil ihr komponierender (nicht kompostierender, wie es in einer Szene herrlich missverstanden wird) Ehegatte sich von einer Schiffskapitänin abschleppen lässt.

Das ist alles keine Übertreibung, es geht hoch her im Eröffnungsfilm der Berlinale, von den gespaltenen USA über skurrile Opernstücke bis hin zu einer romantischen Liebesgeschichte ist alles dabei. Und man ist kurz versucht zu denken, dass die Drehbuchautorin und Regisseurin da zu viel gewollt hat, aber hat sie nicht, es ist einfach nur schön.

Warum der Film zwar die Berlinale eröffnet, und damit auch den Wettbewerb, aber außer Konkurrenz läuft, unter dem ominösen Obertitel „Berlinale Special Gala“, das könnte ich ja mal in der Presseabteilung erfragen, aber ich traue mich nicht. Da ist meine Scham dann doch zu groß.

Und weil ich jetzt doch Angst vor der Meinung der Leute habe, wegen der Würstchen: Ich hab die Dinger natürlich nicht bei der glamourösen Eröffnung des Festivals am Donnerstagabend neben Robert Habeck und den Elevator Boys auf dem Roten Teppich gegessen. Sondern einen Tag vorher auf einer Pressevorführung.

Denn es ist ja so, dass Journalisten die unreinlichsten unter den Menschen sind. Deshalb kommt man mit dem speziell für den Maulbär ausgestellten Akkreditiertenausweis eigentlich überall hin. Nur eben nicht auf die feierliche Eröffnung in den Berlinale Palast. Nun denn, Vorhang auf für eine unverschämte 73. Berlinale.


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