Neptun in der DDR

Oder wie ich das Headbangen erfand
Dominik Bartels ist Autor, Poetry Slammer und Verleger. Gebürtig aus Mecklenburg verbrachte er seine Jugend im real existierenden Sozialismus. Was das bedeutete, verpackt er heute humorvoll und leicht in Worte. Gemeinsam mit Kollege Jörg Schwedler liest er im März 2022 erstmals mit der „Ultimativen Ossilesung“ in Berlin – im Union Kino Friedrichshagen. Vorgeschmack gefällig?
Neptunfest im DDR-Ferienlager
Fotorechte: Mit freundlicher Genehmigung des Neuen Deutschlands
Die Freizeitgestaltung in den Ferienlagern der Pioniere und FDJler war eher rustikaler Natur. Es gab ausgedehnte Ausflüge in den nahegelegenen Wald, Turniere in allen möglichen und unmöglichen Sportarten, Nachtwanderungen und nicht zu vergessen das legendäre Neptunfest. Der Höhepunkt eines jeden Ferienlagerbewohners. Neptun war einer der Betreuer, den man vollkommen grün anmalte, einen Dreizack in die Hand gab und so etwas Ähnliches wie eine BurgerKing-Krone auf den Kopf setzte. Ihm zur Seite standen die sogenannten Häscher, zumeist waren das die schnellsten, größten und kräftigsten Jungen aus dem Ferienlager. Sie schmückten sich mit albernen Röcken aus Krepp-Papier und wilder mit Wasserfarben aufgebrachter Körperbemalung.
Wir hatten ja nüscht.
Alle Kinder versammelten sich am See oder einem anderen Gewässer, um die Ankunft Neptuns und seiner Gehilfen beizuwohnen. Ein in meiner Erinnerung großartiger Schabernack nahm seinen Lauf. Neptun faselte etwas von alles verschlingenden Meerestiefen und Unwürdigen unter uns, die ihm noch nicht den nötigen Respekt gezollt hätten. Er glotze drei bis acht Mal etwas übertrieben aggressiv in die Menge und verkündete einen Namen, den er mehr schlecht als recht in einem sich reimenden Vierzeiler unterbrachte. Das arme Geschöpf, dessen Name gefallen war, rappelte sich nun aus der passiven Beobachterrolle hoch und versuchte, den Häschern zu entfliehen, wobei er aus Hinterhältigkeit von den neben ihm sitzenden Freunden festgehalten oder wenigstens behindert wurde. Das war ungefähr so, als würde Bayern München mit voller Truppe gegen Fortschritt Bischofswerda spielen, denen man zusätzlich die Beine abgehackt hatte. Und die Augen verbunden. Und die nur zu sechst spielen durften. Und … na, ich denke, Sie haben die Ausgangslage verstanden. Praktisch und theoretisch war der Täufling chancenlos. Hinzu kam der für den Fliehenden sehr ungünstige Umstand, dass die Lakaien Neptuns mit einem großen Netz arbeiteten. Das warfen sie dem Davonsprintenden irgendwann zwischen die Beine oder über den Kopf und brachten ihn damit eher unsanft zu Fall. Manche hatten Glück und befanden sich gerade auf dem angrenzenden winzigen Rasenstück. Andere dagegen ereilte das Netz und der folgende Sturz auf Gehwegplatten oder Asphaltflächen. Aber was soll´s – Narben sind die Einträge in unser persönliches Geschichtsbuch! Anschließend wurde das offiziell nun Täufling benannte Kind im Netz zum großen Neptun gebracht, der mittels einer riesigen Schriftrolle verkündete, warum er sich gerade diesen Burschen oder jenes Mädchen ausgesucht hatte. Erst dann folgte der wirklich ekelhafte Teil des Schauspiels. Mit großer Sorgfalt und Akribie wurde der Spezial-Trunk angerührt, eine Brühe aus allen zur Verfügung stehenden Flüssigkeiten sowie einigen Essensresten vom Vortag.
Schmeckte genauso wie es sich anhört.
Zwei bis drei Kellen wurden dem armen Menschenkind zwangsweise oral eingeflößt. Dazu beschmierte man sie oder ihn mit einer widerlichen Pampe aus püriertem Mittagessen. Erst danach griffen sich die Häscher je einen Körperteil und beförderten den Täufling mittels wilder Ausholbewegungen ins Wasser oder zumindest in die Nähe des volkseigenen H2Os. Abschließend begrüßte Neptun das arme Menschenkind offiziell in seinem Reich und das Spiel begann von vorn. Nur dass diesmal alle etwas angespannter und aufmerksamer waren. Wirklich alle! Bis, ja, bis auf mich. Ich beobachtete fasziniert die vor mir sitzende Katrin. Bei jeder Bewegung des Kopfes pendelte ihr langer Zopf auf dem nackten Rücken hin und her. Es sah ganz entzückend aus. So entzückend und auch ein wenig meditativ, dass ich folgende Sätze nicht wirklich mitbekam: „In eurer Mitte sitzt ein Kleiner, der oft den Mund vollnimmt. Gemeint ist Dominik, sonst keiner, sein Taufname ist ein feiner, er heißt jetzt: Kaulquappe, der Kleine.“ Als um mich herum alle aufschrien und sich ruckartig von mir entfernten bzw. meine Beine festhielten, sah auch ich die hämisch grinsenden Visagen der pubertierenden Nachwuchsgenossen auf mich zukommen. Ich wollte noch rufen: „Die, es muss DIE Kaulquappe heißen!“ Aber da hatten sich auch schon zwei der jugendlichen Lagerfunktionäre auf mich geschmissen. Ich weiß noch, dass ich mich unwillkürlich fragte, wie um Gottes Willen man bei der sozialistischen Mangelernährung so fett werden konnte. Einige Sekunden später stand ich vor Betreuer Matze alias großer Neptun. Sie beschmierten mich mit Essenrestepampe und versuchten mir die Ekel-Brühe einzuflößen, was nur mäßig gelang. Denn, und das ist keine Lüge aus dem schwarzen Kanal mit Karl-Eduard Schnitzler, in diesem Moment erfand ICH das Headbangen.
Ja, Leute – genauso war es!
Seit diesem Neptunfest werden rund um die Welt mit irrem Blick die Köpfe geschleudert, wenn es richtig hardrockmäßig zur Sache geht. Also wie zur Taufe beim Neptunfest eben. Aber wie das immer so im Leben ist: Undank ist der Welten Lohn. Und deshalb erntete ich nicht etwa Applaus oder wenigstens ein paar sehnsuchtsvolle Blicke der Mädchen aus der mittleren Gruppe (12 bis 14 Jahre) für meine zukunftsweisende, revolutionäre Performance, sondern wurde von den Knechten des Regimes, also von Neptuns Gehilfen, unsanft ins Schilf geworfen. Da stand ich nun, beschmiert, verletzt, gedemütigt und mit einem grammatikalisch falschen Tauf-Namen. In diesem Moment beschloss ich, und das ist die Wahrheit und nichts als die Wahrheit, David Hasselhoff einen Brief zu schreiben, dass er doch bitte, bitte die Mauer weg singen soll. Und wie diese Geschichte endete, nun … das wisst ihr selbst am besten.
17.3.22, 20:15 – Die Ultimative Ossilesung Ort: Union Kino Friedrichshagen, Eintritt: ab 13€ Mehr Infos gibts hier Fotos: Archiv Neues Deutschland

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