Neue Nachbarn

Was für ein Irrenhaus
Eher unfreiwillig falle ich vorübergehend zurück ins Großstadtleben. Ich bin erstaunt, wie herrlich anonym das ist. In einem Miethaus mit dreiundzwanzig anderen Parteien, die man nie zu Gesicht bekommt, weiß man nichts von denen. Außer vielleicht, dass sie ein Baby haben, weil man dieses regelmäßig mittags und abends zur Schlafenszeit schreien hört und die Säcke mit den vollen Windeln vor der Türe sehen und leider auch riechen muss. Oder dass jemand extrem gerne extrem viele extrem unnötige Dinge online kauft, was man unschwer an der Zahl und der Aufschrift der vor der Tür abgelegten Pakete erkennen kann. Ansonsten bist du aber in der Stadt dermaßen unsichtbar, dass der Balkonnachbar zusammen zuckt, wenn du ihn freundlich grüßt und schnell wieder in die Einzimmerbutze zurück hüpft. Bloß keinen Kontakt!
Ein Neubau am Rande der großen Stadt
Foto: iStock/Victor Golmer

Den Zwischenweg meinte ich zu finden, wenn ich an den Stadtrand ziehe, wo das Dorf noch wie Dorf aussieht, aber die S-Bahn dich flugs in die City befördert. Tagsüber Stadtlärm und nachts Totentanz. Der gelungene Kompromiss, denke ich mir. Bis ich realisiere, dass ich hier von beidem den größten Mist abbekommen habe.

Zuallererst habe ich gar keine Nachbarn. Wochenlang wohne ich alleine in dem großen Haus. Die anderen fünf Wohnungen unter mir stehen noch leer. Einzig der Polier der Baufirma stolziert hier regelmäßig auf und ab. Nicht dann, wenn die Fliesenleger im Pulk unangekündigt Zutritt zum Gebäude haben wollen und total angepisst reagieren, wenn ich sie bitte sich auszuweisen. Der Obergockel rennt hier nur zu bestimmten Zeiten rum. Ich habe noch nicht heraus bekommen, welchem System das folgt. Vielleicht ist es ja auch nur Zufall. Aber wenn er da ist, dann brüllt er im Hof zwischen den zwei Häusern in sein Handy, dass es nur so scheppert. Wäre er ein Pfau, hätte er permanent sein Rad offen, sagt der Nachbar.

Ja, ein paar Nachbarn habe ich bereits. Die meisten kenne ich nur vom Gruppenchat, den wir nach der ersten Eigentümerversammlung eingerichtet hatten. Lustige Mischung. Von Allem was dabei. Wäre es eine Schulklasse, die Größe haben wir ja ungefähr, dann könnte man sagen, drei Streber, ein schwarzes Schaf, ein Dutzend Unauffälligkeiten und natürlich jemand, der ständig unendliche Texte verfasst, ohne je wirklich was zu sagen. Nur hohle Phrasen. Das ist zeitraubend. Jedesmal denke ich, wo ist jetzt die Message? Kommt da noch was? Sinnlose Strohdrescherei.

Auch sonst leicht toxische Dynamik. Ungefähr die Hälfte vermietet, was zur Folge hat, dass ihnen total Latte ist, wie sich Manche hier benehmen, ob das mit dem Müll klappt und wer nachts einfach nicht die Klappe halten kann bei offenen Fenstern. Bin ich spießig? Anyway, es gibt so viele Leute, die es nicht raffen, was in welche Tonne kommt und wenn'se voll ist, den Sack einfach daneben stellen. Oder besser noch, oben rein quetschen und dann so lange drücken, bis der Deckel kaputt geht. Die Viecher hier auf dem Dorf finden das großartig. Bei uns ist es eine riesige Horde Krähen, die das Zeug dann auseinander rupfen und im ganzen Wohngebiet verteilen. Jetzt haben wir kleinbürgerliche Müllhäuschen, da kommen die Krähen wenigstens nicht rein.

Einmal erwische ich ungewollt eine der ersten Mitbewohner, wie sie schnell und vermeintlich ungesehen einen Baum in die Gewerbemülltonne gegenüber stopft. Den Wurzelballen voran, die Krone hängt auf die Fahrbahn. Der nächste Radfahrer wäre da voll rein gesemmelt. Die Dame hat ihre anderthalb Quadratmeter Balkon offensichtlich überschätzt. Auf meiner Terrasse oben sieht das Bäumchen zauberhaft aus. Inzwischen blüht es sogar. Herr Jan Sommer, der in Wahrheit ganz anders heißt, nennt sie Crazy-Bertha. Ich hatte mich schon gewundert.

Selbstverständlich haben wir auch einen Klassenkloppi. Der wohnt zur Miete. Vis-à-vis im hinteren Gebäude ganz oben, kleine anderthalb Zimmer mit hübscher Dachterrasse. Diese bewohnt er, seit er hier ist, quasi Tag und Nacht. Da ich viel zuhause bin, sehe ich, er auch. Der arbeitet definitiv nicht. Kann mir eigentlich egal sein. Offensichtlich zahlt er ja einen übelst kranken, kapitalistischen Batzen Miete. Das macht wohl sein angeblich reicher Münchener Papi. Hat er dem neben ihm wohnenden Paar ungefragt mitgeteilt, was sich leider die Terrasse mit ihm teilen muss. Die Armen. Die haben sogar Blickkontakt, der Sichtschutz ist noch nicht installiert, und rund um die Uhr kranke Geräusche.

Wann immer ich draußen bin, höre ich das. Der raucht den ganzen Tag eine nach der anderen und spuckt dabei unablässig in die Blumen. Dazu macht er Geräusche wie ein Tier. Hochziehen, Rotzen, Raus! Rotzen, Raus, Hochziehen! Anfangs dachte ich, wir hätten hier einen Frosch im Regenbecken. Huch, nein, das ist der Spucki aus Haus 2! Oh Gott. Wenn er nicht rotzt und spuckt, schneuzt er halbstündlich trompetend wie ein Elefant ins Taschentuch. Das ist doch nicht gut für die Schleimhäute, Mensch! Dazwischen telefoniert er lauthals streitend mit seiner Angebeteten oder guckt Fußball am Laptop - ohne Kopfhörer, logisch.

Dabei ist das hier nicht in Marzahn oder so. Wir sind ein super piekfeiner Vorort. Mir fast schon bisschen zu kleinkariert. Meiner Meinung unschlagbarer Nachteil der Ruhe auf dem Dorf - jede noch so kleine Störung schneidet messerscharf in die dicke Stille hinein, dass es dir in den Ohren brennt und sticht. Was für eine Misere.

Die junge Familie neben Herrn Rotzo hat einen kleinen Sohn, der wird bald drei. Inzwischen spuckt er schon. Diverse Schimpfwörter werden auch nicht mehr lange auf sich warten lassen.


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