Man muss auch mal durchfahren können
Man könnte ja denken, dass es in einem halben Menschenleben machbar sein müsste, eine schöne Wohnung, ein Häuschen oder ein Zelt zu finden, in denen oder um die herum es einigermaßen gemütlich und stille ist. Ultimativ und halb wahnsinnig vom Stadtradau hatte ich vor langer, langer Zeit nach noch längerer Suche ein Anwesen gefunden, was noch bezahlbar war. Man kann es nicht anders nennen. Ein wunderschönes Bürgerhaus auf Feldsteinsockel, mit zwei Wohnungen getrennt durch einen langen Flur von der Straße zum Hof hinaus führend. Riesige Fachwerkscheune, dahinter zwei Werkstätten und um die Ecke ein zauberhafter, großer, wilder Obstgarten mit einem fast versteckten Bungalow am Ende. Ein Traum. Das Dorf hat Bahnanschluss, in 30 Minuten biste im Norden der Stadt. Kann also weiter dort arbeiten.
Das Gehöft liegt an der Dorfstraße und um die Ecke direkt am Kanal. Was sind wir da die letzten zehn Sommer schwimmen gegangen jeden Morgen... Nun war der Kanal, als wir ankamen noch zugeschüttet und die Brücke darüber geschlossen. Das bremste den verbliebenen Durchgangsverkehr wunderbar aus. Doch das war den Brandenburger Regionalplanern ein Dorn im Auge. So geht das nicht, so kann man das nicht lassen! Da ja auf dem Lande inzwischen jeder außer uns ein Auto besitzt, müssen auch Straßen und Brücken durch kleine Dörfer zügig befahrbar gemacht werden. So auch unsere. Der Kanal wird aufgebuddelt, das Wasser fließt wieder und auf der Straße kann man über die Brücke durchrasen und muss kaum merklich von 70 auf nur 65 kmh abbremsen.
Zusätzlich, und weil die Brücke ja nun auch für den Schiffsverkehr wieder durchlässig gemacht werden muss, wird sie als Klappbrücke reaktiviert. Ende der dreißiger Jahre war das Ding geschlossen und der Kanal zugekippt worden, weil ein gewisser Politiker es satt hatte, dass er auf seinem Weg von der Uckermark nach Berlin regelmäßig eine halbe Stunde warten musste, bis alle Boote durch waren.
Dudumm-dudumm macht die Brücke
Ich rede jetzt nicht von den ersten Jahren Bauarbeiten, als wir da ankamen. Aber die wunderbare, knallblaue Blechbrücke, die einem bei jedem Blick aus dem Fenster wie ein überdimensionaler Irrtum in der Landschaftsplanung schmerzhaft ins Auge sticht, muss ja für die ebenso überdimensionalen zweistöckigen Yachten und Hausboote, die von nun an gefühlt direkt durch unsere Wohnstube fuhren, geöffnet werden. Einmal in der Stunde, wenn nötig in der Saison, wurde dieses Monstrum aus Eisen von einem nervenzerreißenden, schrillen Piepton begleitet scheppernd geöffnet. Das wiederum zog alle in der Nähe befindlichen Dorfbewohner und durchreisende Autofahrer an, die selbstverständlich den Motor weiter laufen ließen, während sie ausstiegen, um das Schauspiel zu betrachten und mit ihren Handys zu fotografieren. Als wäre es das Schiffshebewerk!
Die Härte waren allerdings Motorradfahrer! Die ließen auch gerne ihre Maschinen weiter laufen, weil sie Angst hatten, dann vor versammelter Mannschaft nicht schnell genug wieder starten zu können. Die kleine Zwangspause nutzend, hatten die doch keine Scham und haben scharenweise, während ich einen Meter über ihnen aus dem Fenster sah, unten gegen die Hauswand gepinkelt!
Während der Schließzeiten gab es einfach nur mit jedem darüber fahrenden Fahrzeug auf jeder Achse und an beiden Schwellen zu dem metallenen Klappteil der Brücke ein kräftiges DUDUMM-DUDUMM. Ich zucke heute noch zusammen, wenn jemand irgendwo über 'ne Schiene oder 'ne Schwelle fährt. Dudumm-dudumm! Dudumm. Dudumm. Dudumm-dudumm-dumm-dumm...
Andere Baustellen
Mit meiner ersten Wohnung war es noch einfach. Die musste restauriert werden. War noch mit Einfachfenstern und Kohleofen, da ist das klar. Also, Gerüst ran und los. Kannst ja in 'ne Umsetzwohnung ziehen. Sowas gab es damals noch. Die nächsten zwei waren relativ ruhig und blieben das auch, äußerlich. Das haben wir uns selbst vermasselt und mit dem doppelten Nachwuchs direkt in die Stube geholt den Trubel.
Nach der Trennung vom Vater kam eine niedliche, kleine Altbauwohnung im Hochparterre. Hinten grüner Hof, sodass ich zu anstehender Uhrzeit bequem die Kinder zum Essen rein rufen konnte. Vorne vom Balkon aus hatten wir einen wunderschönen, weiten, grünen Blick über'n Friedhof. Keine zwei Jahre später verstirbt die alte Dame über uns und es zieht eine antiautoritäre Kleinfamilie ein, deren Wanst mit Vorliebe Sonntags morgens um sechse auf dem Parkett direkt über meinem Bett mit dem Würfelbecher spielte! Ratterratterratter-Klack!!! Auf den Kopp. Das war Folter.
Den Friedhofsblick ham'se uns dann auch ratzfatz mit einer Reihe schicker Townhouses und neuen Loftwohnungen verbaut.
Und nu?
Jetzt ziehe ich demnächst wieder raus aus der Stadt. Ist dann schon Brandenburg, aber immer noch S-Bahn... Kleines Mehrfamilienhaus inmitten noch kleinerer Einfamilienhäuser. Hinter uns ein Gymnasium und vorne ein Schulgarten. Na, wenn das da dann nicht mal schön leise wird!
Beim letzten Besuch auf der Baustelle sehe ich gegenüber auf dem einzigen verbliebenen Grünstreifen ein riesiges Ankündigungsschild: neue Grundschule mit Hortgebäude, Sportplatz und Kita. Adé, du geliebte Stille! Ich kaufe mir jetzt einen Kopfhörer mit Geräuschunterdrückungsfunktion. Damit setze ich mich dann auf die Dachterasse und träume weiter von der einsamen Hütte im Wald...