Blöde Väter, fiese Mütter

Ein Loblied auf die Märchen der Brüder Grimm
Seit ich keine Auftritte mehr habe, lese ich abends nur noch meinem Kind vor. Bis das Publikum schläft. Danach halte ich mich krampfhaft selbst noch eine Stunde wach, damit ich morgens nicht schon um vier aufstehe.
Großmutter Grimm am Ofen erzählt der sechsköpfgen Kinderschar gruselige Märchen
Illustration: Ludwig Richter

Anfangs haben wir zuerst Bilderbücher angeguckt, bevor ich zu Harry Potter, Erich Kästner oder Astrid Lindgren griff, aber das gab immer Protest. Zu offensichtlich, dass es jetzt ins Bett geht, wenn Mutter ein Buch ohne Bilder anfasst.

Außerdem ertrage ich die Texte der meisten Bilderbücher nicht mehr. Hölzerne Dialoge ohne Rhythmus und Witz, redundante Beschreibungen, Stilblüten überall. Und hintendrauf steht dann „kindgerechte Sprache“.

Der Sinn von Kinderbüchern besteht aber meines Erachtens nicht darin, den Kindern eine Welt zu beschreiben, die sie schon kennen, sondern eine weitere zu eröffnen. Mit unbekannten Wesen und unbekannten Worten. Der schönste Satz der deutschen Literatur steht am Beginn eines Kinderbuches:

„In den alten Zeiten, als das Wünschen noch geholfen hat, lebte ein König, dessen Töchter waren alle schön, aber die jüngste war so schön, dass die Sonne selber, die doch so vieles gesehen hat, sich verwunderte, sooft sie ihr ins Gesicht schien.“

Brüder Grimm, Kinder- und Hausmärchen, der Froschkönig oder der eiserne Heinrich. Gänsehaut kriege ich, wenn ich das vorlese. Und ich lese das oft vor. Jeden Abend. Vorhänge zu, Nachtlicht an. Ich auf dem Sofa mit Kissen im Rücken in Schlabberpulli und Jogginghose.

Das Kind turnt über mich, sortiert die Kuscheltiere, hopst auf der Hopskuh und befummelt die Schnuller. Irgendwann wird es ruhiger, kuschelt sich an mich, schläft ein. Solange schwelgen wir in der Sprache der Grimms. Sprache ist Musik. Sie will gesungen werden.

Das Tolle an Grimms Märchen ist zum einen ihre Schlichtheit, zum anderen ihre Ambivalenz. Was wurde den kleinen Texten nicht alles vorgeworfen worden in den letzten zweihundert Jahren! Nach 1945 sollten sie sogar für die Gräuel der Nazizeit verantwortlich sein. Ungefähr so, wie heute behauptet wird, Computerspiele machten Kinder zu Amokläufern. Quatsch mit Soße, wenn ihr mich fragt.

Der Froschkönig zum Beispiel ist zum einen die Geschichte eines strengen Vaters („was du versprochen hast, das musst du auch halten“), der seine Tochter mit einem ekligen Frosch ins Bett schickt. Tatsächlich aber lässt die junge Frau den Frosch ja nicht an sich heran, sondern wehrt sich gegen den Übergriff und schmeißt das garstigen Viech gegen die Wand. „Als er aber herabfiel, war er kein Frosch, sondern ein Königssohn mit schönen freundlichen Augen.“ Glück gehabt. Happy Ending.

Die Aufgabe der Väter besteht im Märchen vor allem darin, ihre Töchter rücksichtslos zu verheiraten und ihren Söhnen unnützes Zeug zu vererben. „Sie leisten ihren Kindern keinen Beistand, sondern lassen sie im Stich, missachten sie, gefährden ihr Leben oder suchen sie zu töten“, schreibt der Literaturwissenschaftler Wilhelm Solms.

Herzlichen Glückwunsch zum Vatertag allerseits!

Denkt mein Sohn jetzt, er habe einen schlechten Vater? Wird er womöglich selbst einmal nach dem Vorbild der Märchen ein schlechter Vater werden? Nee. Zumal die Mütter im Märchen meistens tot und die Stiefmütter nun wahrlich keine Engel sind.

Ein Kind spielt und erprobt im Spiel sein Verhalten und Verhältnis zur Welt. Im Spiel können wir jemanden schlagen, ohne ihn zu verletzen (Mensch-ärgere-dich-nicht), auf jemanden schießen, ohne ihn zu töten (Fußball) oder jemanden treffen, ohne ihn zu berühren (Schiffe versenken). Im Märchen kann sich ein Frosch in einen Prinzen verwandeln (wohlgemerkt nicht, weil er geküsst, sondern weil er getötet wurde!).

Die Brutalität im Märchen ist durch ihre Schlichtheit als unwahrscheinlich gekennzeichnet. Und durch die Fremdheit der Sprache wird dem Kind die Distanz zu seiner eigenen Wirklichkeit begreifbar.

Vorgestern Abend ist unser Märchenbuch zerbrochen. Beim Vorlesen. Keine besonders schöne Ausgabe. Achtziger Jahre, Klebebindung, kitschige Illustrationen. Aber die Texte sind originalgetreu und die Schrift ist so groß, dass ich sie auch im Dämmerlicht sehen kann. Das Kind lag auf meinem Schoß und trat mit den nackten Füßen gegen die Seiten. Manche waren eh lose. Und plötzlich „Kracks!“ bricht der Buchrücken durch und teilt das Werk in der Mitte in zwei Hälften.

Zuerst wollte ich ein neues kaufen. Aber findet mal im Jahr 2020 ein Märchenbuch, wo die sieben Geißlein noch mit ihrer Mutter zu „Der Wolf ist tot! Der Wolf ist tot!“ um den Brunnen tanzen dürfen, nachdem er sie vorher heimtückisch betrogen und gefressen hat.
Und die große Schrift! Und die kitschigen Bilder.

Ich habe das Buch zum Buchbinder gebracht. Die Reparatur wird teurer sein als ein Neukauf. Aber das ist mir egal, es sind noch viele Abende bis zu meinem nächsten Auftritt.


Lea Streisand liest wahrscheinlich eventuell demnächst in Köpenick aus ihrem neuen Roman „Hufeland, Ecke Bötzow“
Wann: Donnerstag, 25.06.2020 | 19.00 Uhr
Wo: Mittelpunktbibliothek Köpenick, Alter Markt 2, 12555 Berlin

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