Osterstimmung trompetender Wildgänse

Teil I - Ein Drache mit Bierbauch. Biografische Anmerkung zu Wilhelm Bölsche in Friedrichshagen
Ein Ostermorgen soll es gewesen sein. Und vielleicht war es das Jahr 1901. Der Mann, der das Haus in der Ahornallee 42 in der märkischen Siedlung Friedrichshagen verlässt, strebt dem Nordufer des nahen Sees entgegen. Sein Weg führt ihn dabei über die Friedrichstraße. Die erstreckt sich in ihrer gesamten Länge einen guten Kilometer von Nord nach Süd, ist rund 30 Meter breit – und schnurgerade gezogen.
Porträt des Wilhelm Bölsche
Foto: Nicola Perscheid

Hier hat Preußens „Großer König“, Friedrich II., um das Jahr 1750 eine „Spinnerkolonie bei Cöpenick“ und 200 Maulbeerbäume in den Sand gesetzt, schlesische und böhmische Baumwollspinner in niedrigen Lehmfachwerkhäusern beheimatet; Baumwolle für das Kostüm der Landesarmee sollte hier geerntet werden.

Später, 1842, wurde die Haltestelle Friedrichshagen auf der Strecke der Niederschlesisch-Märkischen Eisenbahn von Berlin in Richtung Frankfurt (Oder) eröffnet. Das Nest entwickelte sich zu einem Villenvorort und zum beliebten Ausflugsziel für Berliner „Sommerfrischler“ – und erhielt um 1880 den Titel „Klimatischer Luftkurort“, mit zwei Badestellen am See, einem Kurpark mit Theater, Biergärten, Cafés und Hotels.


Die erste Duftstimmung des Frühlings

Am Ufer angelangt, schwärmt der morgendliche Wanderer: „Ueber dem Müggelsee liegt eine ernste Duftstimmung des Frühlings, doch noch ohne starke Farben. Der Himmel wie von leichtem Rauch verdunkelt, in dem die Sonne als gelbweiße Insel mit verschwaschenem Umriss schwimmt. Der See gibt das wider mit einem zartesten Perlmuttergrau, durch das ein Reflexband aus tanzendem Silberpunkten schaukelt. Drüben das Waldufer blass grau darauf und über ihm die Müggelberge wie ein blaugrünes Wölkchen, ganz weich, in einen Himmelrauch verfließend ...“ Einen

„singenden Ton und ein eigentümliches rhythmisches Rauschen“

nimmt der Wanderer wahr, sieht, wie ein „großer Keil von einigen fünfzig Wildgänsen … zur gewohnten Fünfuhrstunde von den Aeckern heim auf sein Wasserrevier“ zusteuert.

Die hochfliegenden, trompetenden Wildgansrufe versetzen ihn in Stimmung: Er erkennt in ihnen den Weltenlauf in seinen alljährlichen, in seinen alltäglichen Wiederholungen. Und schreibend ermahnt er die Leser für „Ethische Kultur – Wochenschrift für sozial-ethische Reformen“ im Ausblick über den österlichen Müggelsee, „sich wieder resolut darauf zu besinnen, wie wunderbar das Natürlich selber ist“.

Das wundersame Wesen, es ist für ihn nichts Übersinnliches, nichts Mythisches; es ist die vom Menschen erkannte Gesetzmäßigkeit der Natur. Die ist das eigentliche Wunder. Am Ufer des Sees war es ihm, „als hauchte es jetzt wirklich in leisen Osterglocken über den einsamen See. Die Sonne hatte sich mehr befreit. In dem breiter strömenden Silberband zuckte etwas wie das Lachen eines schönen Mädchens, das schelmisch die blanken Zähne zeigt.“


Ohne Examen – doch mit Furor

Wilhelm Karl Eduard Bölsche wurde am 2. Januar 1861 in Köln als Sohn einer Mainzer Buchhändlertochter und des Journalisten Carl Bölsche (1813–1891) geboren. Der Vater war jahrzehntelang Redakteur der Kölnischen Zeitung. Als Gymnasiast schrieb Wilhelm Bölsche naturkundliche Essays für Zeitschriften wie „Die Gefiederte Welt“ und „Isis“. In den Jahren von 1883 bis 1885 studierte er Philosophie, Kunstgeschichte und Archäologie in Bonn, ohne das Examen abzulegen. Im Einvernehmen mit dem Vater und mit finanzieller Unterstützung der Familie bereiste Bölsche Italien und Frankreich, kam dabei nach Rom und Florenz und später nach Paris.

Seit 1886 lebte er in Berlin, wo er 1887 durch die Vermittlung von Bruno Wille, Schriftsteller und Mitglied des „Berliner Naturalistenvereins“, Anschluss an eine Gruppe „junger Dichter, Schriftsteller und Literaturfreunde“ fand. Diese „Freie literarische Vereinigung“, die unter dem Namen und Wahlspruch ‚Durch!‘ auftrat, hatte sich im Jahr 1886 mit zehn Thesen zur literarischen Moderne als Vertreterin einer jungen, oppositionellen Kunstbewegung vorgestellt und wollte eine als „Naturalismus“ bezeichnete Literatur formieren.

Für die programmatische Vereinszeitschrift schrieb Bölsche im Jahr 1887 den Aufsatz über „Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie“, ein Text, der „eine wichtige Grundlage der Ästhetik der naturalistischen Avantgarde in Deutschland“ wurde. Darin heißt es: „Menschen fallen ins Gebiet der Naturwissenschaften. Ihre Leidenschaften, ihr Reagieren gegen äußere Umstände, das ganze Spiel ihrer Gedanken folgen gewissen Gesetzen, die der Forscher ergründet hat und die der Dichter bei freiem Experimente so gut zu beobachten hat, wie der Chemiker, wenn er etwas Vernünftiges und keinen Mischmasch herstellen will.“


Vom Liebesleben in der Natur und den Naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie

Beeinflusst unter anderen von den Werken von Emile Zola, wollte Bölsche Schriftsteller werden. Zunächst ohne Erfolg: Der zweibändige Roman „Paulus“ blieb unbeachtet. In den Jahren 1890 bis 1893 redigierte Wilhelm Bölsche die damals wichtigste kulturpolitische Zeitschrift Deutschlands „Freie Bühne“, die im Verlag Samuel Fischer erschien.

In erster Ehe war Bölsche verheiratet mit Adele Bertelt. Die Ehe wurde 1896 geschieden. In zweiter Ehe heiratete Bölsche seine Jugendfreundin Johanna Walther. Das Ehepaar hatte drei Kinder: Ernst Wilhelm Julius, Karl Erich Bruno und Johanna Alwine Elisabeth.

1890 gehörten Wilhelm Bölsche und Bruno Wille zu den Mitbegründern der „Freien Volksbühne“, die als Arbeitertheater gedacht war – und die bis heute eine Theaterinstanz ist. Bölsche lernte in dieser Zeit die Brüder Heinrich und Julius Hart kennen und machte auch die Bekanntschaft mit Gerhart Hauptmann, mit dem ihn von da an eine lebenslange Freundschaft verband. Ernst Haeckel, einer der führenden naturwissenschaftlich geprägten Philosophen des 19. Jahrhunderts, lobte Bölsche nach der Lektüre des „Liebeslebens in der Natur“ mit den Worten:

„Für Ihr ästhetisch-biologisches Buch über die Liebe in der Natur sage ich Ihnen meinen herzlichsten Dank! Ich habe dasselbe sofort mit größtem Interesse durchgelesen, da ich selbst vor Jahren den Plan hatte, etwas Ähnliches zu schreiben.“

„Sie haben es aber viel besser gemacht als ich gekonnt hätte, besonders hinsichtlich der leichten und schönen künstlerischen Form.“

In seinen „Naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie. Prolegomena einer realistischen Ästhetik“ hatte Bölsche 1887 geschrieben: „Die Basis unseres gesammten modernen Denkens bilden die Naturwissenschaften. Wir hören täglich mehr auf, die Welt und die Menschen nach metaphysischen Gesichtspuncten zu betrachten …“ Und 1906 führte er in seinem Werk „Was ist die Natur?“ programmatisch dazu weiter aus: „Niemand wider die Natur, keiner über die Natur, denn die Natur! Ist nicht dieser Mensch, der mit seiner Wissenschaft und Technik am tiefsten in das Herz der Natur wie ein Beutejäger einzudringen scheint, der mit seiner Technik diese Natur endlich zu unterjochen scheint, dass sie ihm wie ein gebändigter Riese dienen muss – ist dieser Mensch contra Naturam nicht eben die gewaltigste, die tiefste Äußerung und Betätigung dieser Natura ipsa, die uns gegeben ist?“

In seinem Text aus dem Jahre 1906 ergründete Wilhelm Bölsche die Wechselbeziehung zwischen dem Menschen, der Natur und der Kultur. Und heute wie damals stellt sich die Frage, die Bölsche auftat, ob wir uns der Natur fügen werden oder im „Ewigkeitsprozess des sieghaft Harmonischen“ bestehen bleiben?



Was ist die Natur?
von Wilhelm Bölsche

mit einer Einführung von Dr. Gerd-Hermann Susen und einer biografischen Anmerkung von Marcel Piethe

„Niemand wider die Natur, keiner über die Natur, denn die Natur! Ist nicht dieser Mensch, der mit seiner Wissenschaft und Technik am tiefsten in das Herz der Natur wie ein Beutejäger einzudringen scheint, der mit seiner Technik diese Natur endlich zu unterjochen scheint, dass sie ihm wie ein gebändigter Riese dienen muss – ist dieser Mensch contra Naturam nicht eben die gewaltigste, die tiefste Äußerung und Betätigung dieser Natura ipsa, die uns gegeben ist?“

In dieser literarischen Wiederentdeckung aus dem Jahre 1906 ergründet Wilhelm Bölsche die Wechselbeziehung zwischen Mensch, Natur und Kultur. Mehr denn je stellt sich heute die Frage, ob wir uns der Natur fügen werden und im „Ewigkeitsprozess des sieghaft Harmonischen“ bestehen bleiben.


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