Nischt passiert

Alte Nachbarn
Auf dem Dorf dachte ich noch ganz naiv, je weniger Nachbarn, umso besser. Das war schon der erste Irrtum. Ausgerechnet auf dem Dorf, wo sonst nichts weiter los ist, außer einmal im Jahr Erntedank-Besäufnis mit Umpfumpf-Mucke aus der Dose, fettiger Bratwurst und billigem Bier bis zum nachmitternächtlichen Nachhausewanken. Ausgerechnet da wird vor Langeweile jeder Einzelne akribisch beobachtet. Da haben die Fenster Augen und die Hecke hat Ohren. Weil sonst nichts los ist, muss halt der Nächste überwacht werden. Und Jeder weiß über Jeden bescheid.
Alte Nachbarn
Foto: iStock/pri

Ich will aber nicht bescheid wissen. Mich interessiert nicht die Bohne, warum die nebenan jetzt ihr Haus schlüpferrosa anstreichen lassen. Es stellte sich raus, dass der Maler die Farbe falsch angemischt hatte, aber da war der Schaden schon angerichtet. Nun gucken wir täglich voller Ekel auf den zahnspangenabdruckfarbenen Giebel. Lässt sich nicht mehr ändern.

Die Frau des Hauses hängt alle zwei Tage die gesamte Hauswäsche direkt am Zaun neben unserem Bungalow im hinteren Garten ausschließlich so auf, dass die Unterhosen des Hausherrn auf unserer Seite quasi direkt neben dem Esstisch hängen. So müssen sie und ihre Gäste sie nicht sehen. Mir hängen sie aber gefühlt in die Kaffeetasse. Wenn der jugendliche Sohn nach nächtlicher Feier des Lebens am Lagerfeuer morgens noch ein bisschen länger in Morpheus' Gefilden zu weilen geruht, ranzt der Gatte Blasius drei Meter hinterm Zaun beim Holzmachen um halb Achte seinen Gehilfen an: „Sei leise, der Bengel schläft noch!“ Was dieser dann eben leider nicht mehr tut. Schade.

Auf der anderen Seite, und da waren wir schon sehr beglückt, dass es nur zwei direkt angrenzende Parteien gab, sitzt der Schlurfi im letzten, verbliebenen weniger zugemüllten Zimmer im Erdgeschoss seines Häuschens, während über ihm das Dach hinten schon zur Hälfte eingestürzt ist und säuft sich im wahrsten Sinne zutode. Hätte ich auch gerne lieber nicht gewusst. Kriegste aber nicht weg geguckt, wenn sein Kumpel zweimal die Woche mit dem Handwagen die dreifache Bierkastenlieferung bringt. Der Kollege selbst ist nicht mehr so gut zu Fuß.

Gegenüber an der Straße lässt Madame Großerbin eine Gründerzeitrestauration komplett leer stehen. Sämtliche Millionenangebote, um das Ding wieder in Betrieb zu nehmen, hat die Dame ausgeschlagen und dann kurzerhand den Saal, dessen Dach auch schon in Einzelteilen im Innenhof lag, abgerissen. Zum Ärger aller noch verbliebenen Ureinwohner, die dort von Kommunion bis diamantene Hochzeit alle wichtigen Lebensereignisse gefeiert hatten. Seither hat sie den Spitznamen Pauline-Ruine! Pech gehabt.

Der liebste Nachbar über'n Kanal, „uffe drühm'sche Seite“, wie die Einheimischen sagen, ist mir der Gustav auf seiner Banke. Der sitzt da tagein-tagaus bei Regen und bei Sonnenschein unter seiner Trauerweide und guckt aufs Wasser, als wenn es da was zu sehen gäbe außer einem Entenpaar und manchmal auch dem Biber. Wenn er da nicht sitzt, hockt er im Campingstuhl in seiner Waschküche, wo er den Fernseher installiert hat, weil er „die schneller warm kricht“ als die große Stube im alten Haus. Arme Wurst. Wenigstens ist er leise.

Die andere Ruine steht neben Gustav. Ein ehemals wunderhübsches, romantisches 1900er Gebäude mit Stuck an der Fassade und handgeschnitzter Eingangstür. Der Putz ist längst ab, das Haus verlassen, das Dach notdürftig mit Blech geflickt. Das hatte der Hausherr seiner Angebeteten „über'n Kopp anjezündet“, weil sie fremd gegangen war. So erzählt man sich. Verkoofen will er nicht.

Die Einliegermieterin, die mir an der Giebelseite am Nächsten war, stand gerne und oft vor der Türe und rauchte. Tag und Nacht. Kein schöner Geruch, auch wenn man selbst ab und an mal ein Zigarettchen dreht. Ungleich schlimmer als der Gestank waren ihre Geräusche. Raucherhusten klingt wirklich grauenvoll. Tut mir richtig körperlich weh, das zu hören. Aber sich beschweren, wenn wir Lagerfeuer machen: „Macht det Feuer aus!", brüllt sie über'n Hof. "Det zieht mir in die Schlafstube. Da stinkt die janze Wäsche!“ - Mach doch das Fenster zu, denke ich. Dumme Kuh.

Einmal krichte die Dame Besuch. Dieser fragte konsterniert, „Wat issen dit hier?! Wohnen hier weltsche?“ „Hm.“, knurrt das COPD unwillig zurück. „Villa Kunderbunt oder wat?“, unkt der Besuch. Beide wussten nicht, dass ich unweit hinter ihnen zwischen den Sträuchern in der Schaukel sitze. Ich freue mich über das Kompliment! Besser kann man meinen Wohn- und Lebensstil kaum beschreiben. Glaube aber nicht, dass das so gemeint war.

Als ich in den ersten Jahren nur wochenends aufs Land fuhr, der Vater da noch alleine wohnte, fragte ich ihn jedesmal: „Und, was ist hier so passiert?“ - „Na nischt.“, sagt der Alte. „Nischt ist passiert. - Aber weeste schon, die Dicke in det grüne Haus is jestorben. Die hatte Krebs. Der Bohm hat der Pauline det Giebelfenster zujemauert. Jetzt ist es duster in ihrer Küche. Hat'se nu' davon. Darf ja sowieso nicht wohnen in der Remise! Bei der Katrin hat der Handwerker dis janze Material aus der Scheune geklaut und ist verschwunden. Und der Bäcker hat zujemacht. Lohnt sich nicht mehr für die paar Hanseln hier. - Aber sonst, sonst ist nischt passiert!"


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