Lässt man Schüler, egal welchen Alters, Zeichnungen anfertigen, von der erträumten Innenausstattung ihrer Schule, erhält man lauter Höhlen. Podeste zum Hineinkriechen, runde Kapseln auf Beinen, Bauwagen mit Gardinen in der entferntesten Ecke des Schulhofes, kleine Gärten mit zugewucherten Verschlägen, Räume zum Separieren am liebsten auf dem Dach, oder im Keller.
Natürlich bekommen die Schüler ihre Verschläge nicht. Alles muss übersichtlich sein. Kinder dürfen sich in der Schule nicht verstecken. Die Architekten, die das Projekt an der Berliner Schule initiiert haben, müssen Kompromisse finden. Die Kapseln werden gläsern, die Podeste nicht zum Hineinkriechen und die Kinder müssen sich ihre Verstecke woanders suchen. Damit haben sie es heute so schwer wie nie zuvor.
Meine Großstadtkinder treffen sich mit ihren Freunden nicht auf dem schön begrünten Platz mit Bänken, Tischtennisplatten und Basketballkorb, den die Stadt für sie angelegt hat, sondern lieber auf dem Supermarktparkplatz, der ihnen keinen Vorschlag macht, mit welcher Beschäftigung sie ihre Freizeit ausfüllen sollen. Sie wollen es selbst herausfinden. Am liebsten an Orten ohne Regelwerke. Auf einem Dachboden waren sie noch nie. Alles ist verriegelt. Der Geruch nach heißem Staub, altem Holz und frischer Wäsche auf dem Dachboden des Berliner Wohnhauses, in dem ich aufwuchs, schwindet auch aus meinem Erinnerungsarchiv. Wo die Großstadtdachböden in den letzten Jahrzehnten nicht in Dachgeschosswohnungen verwandelt wurden, machte man sie zu Sicherheitsbereichen, für die der Hausmeister den Schlüssel verwahrt.
In einen deutschen Sicherheitsbereich gehören keine Vögel, keine Fledermäuse, keine Kinder, die auf muffigen alten Filzdecken ein geheimes Picknick mit Brühwürfeln, Kaubonbons und Brausepulver veranstalten.
Als ich 1990 in einer ehemaligen Dachbodenwaschküche wohnte, gab es in Deutschland 57 Prozent mehr Vögel als heute. In süddeutschen Großstädten gibt es kaum noch Tauben und Spatzen. Ich habe keine Ahnung von Vögeln, aber dass damals die Dachböden tagsüber den lauten Schwalben, Amseln, Spatzen und nachts den lautlosen Fledermäusen und Eulen gehörten, wusste jedes Kind. Dass die Vögel für das, was sie hinterlassen, keine Versicherung zahlen, weiß jeder Hausbesitzer. Es gibt keine Dachböden mehr, die den Hausbewohnern zugänglich sind, es gibt keine Brachen, keine Ruinen. Alle zugänglichen Orte sind erschlossen, haben Besitzer, haben Regeln. Unbeaufsichtigte Plätze gibt es weder für Kinder, noch für Tiere.
„Kinder und Hühner gehören nicht in die Stube“,
hieß es bei meiner Oma auf dem Land. Sie fegte den Staub aus dem Flur und jagte uns mit dem Besen hinaus, in den Hof, in die Scheune, auf den Dachboden. Außerhalb der Stube durften wir alles, und alles alleine. Die Welt gehörte uns, mit allen Gefahren. Um die stinkende Jauchegrube machten wir einen Bogen und als Oma sagte, im Dorfbrunnen sei mal ein Kind ertrunken, sahen wir in den schwarzen Schacht und fürchteten uns. Schon dem hundertjährigen Dorfältesten hatte man das in seiner Kindheit erzählt. Dabei starb man im Dorf schon lange nicht mehr als Kind im Brunnen, sondern als Jugendlicher auf der Landstraße.
In der Stadt lief ich mit meiner Schwester auf den Dächern ums Karee, die Schornsteinfegerleitern rauf und runter, bis jemand über den Hof brüllte, dass wir da aber mal schleunigst runterkommen sollen. Dass es gefährlich war, haben wir nicht verstanden, weil Erwachsene es sagten, sondern weil wir es fühlten, dieses Kribbeln im Bauch, wenn man der Dachkante näher kam. Auf der Straße, die Autos wie Matchbox, die Menschen wie Ameisen. Der Ort unterm Himmel war so ungewohnt erhebend, die gesellschaftlichen Regeln so angenehm relativiert.
Dass Kerzen und Federbetten auf dem trockenen Dachboden gefährlicher waren als im Keller, wo es nach feuchtem Kalk roch, lernten wir mit allen Sinnen. Ein Dachboden, eine alte Scheune, ein Gebüsch kann in einem Kinderleben wertvoller sein als ein teurer Hotelurlaub. Eine selbsterkannte Gefahr wichtiger als eine fürsorgliche Sicherheitsabgrenzung.
Wäre ich als Kind nicht auf dem Dach gewesen, müsste ich jetzt vielleicht bungeejumpen oder fallschirmspringen um herauszufinden, was ich als Kind nicht hätte lernen dürfen, wäre alles so verschlossen gewesen wie heute. „Geht ja nicht anders“, sagt der Hausmeister. „Die Kinder stellen ja nur Blödsinn an.“ Dann müssen die Kinder sich anderen Blödsinn suchen und klettern über die viel zu vielen Mauern und Zäune, die uns umgeben, klettern nachts heimlich auf Baustellenkräne, rasen mit dem Motorrad über die Landstraße, trampen durch Venezuela, bis wir erkennen, dass es nichts nützt, ihnen die gefährlichen Wege versperrt zu haben.
Wo man vor zwanzig Jahren als Kind ungestraft eine Abkürzung über ein Betriebsgelände nehmen konnte, sind heute hohe Zäune mit Stacheldraht, Überwachungskameras und Alarmanlagen. Es gibt kein Allgemeingut mehr, weil hier jeder Quadratmeter seinen Wert hat und, um ihn zu halten, nicht frei zugänglich sein darf. Jedes abgezirkelte Stück Land verteidigt die Prinzipien der Besitzverhältnisse, mit der Behauptung, es sei notwendig, sich abzugrenzen. Die Zäune und Mauern erziehen unsere Kinder mit. Sie weisen ihnen auf der Suche nach Freiräumen den Weg ins private Reich oder in Computerwelten als scheinbar einzige Möglichkeit, sich einen Ort zu ergattern, an dem sie sein dürfen wie sie wollen.
Vor allem im Osten Deutschlands gibt es noch verhältnismäßig viele frei zugängliche Gemeinschaftsorte.
Aber immer seltener lassen sich geheime Plätze entdecken, die trotz ihrer Attraktivität wirtschaftlich unerschlossen sind und an denen man vorübergehend das unbezahlbare Gefühl haben kann, die Welt würde uns allen gehören. Je mehr Menschen wir in den Städten werden, umso eingeschränkter sind unsere Bewegungen. Wir lassen uns von Geländern leiten, von Markierungen führen, von Automaten bedienen, von Kameras beobachten, dürfen uns nicht hinsetzen, wo sich die Menschenströme bewegen und nicht bleiben, wo wir nicht bezahlen.
Dass wahre Freiräume nicht durch Abgrenzung zu schaffen sind, versuchen wir zwar unseren Kindern theoretisch beizubringen und auch dass man teilen muss, weil man sonst selbst nichts abkriegt. Aber es besteht die Gefahr, dass wir ihnen ständig das Gegenteil beweisen, bis sie diese Verhältnisse, in denen sie ihren Platz erkämpfen, verteidigen und bezahlen müssen, für die einzig mögliche Daseinsform halten. Oft genug lehnen sie zum Glück den Käfig ab, trotzdem er golden ist.
Klar, wollen wir mit dem Bedürfnis nach Eigentum einen Sicherheitsbereich schaffen, in dem uns nichts Schlimmes passieren kann. Ein Instinkt, den Kinder ausleben, wenn sie sich eine Höhle bauen. „Du darfst hier nicht rein. Das ist unsere Höhle!“ Je gefährlicher das Umfeld erscheint, umso stärker wollen wir uns abgrenzen, ohne dabei zu erkennen, dass wir das Umfeld durch zu große Abgrenzung immer gefährlicher machen.
Wer sich ein Refugium geschaffen hat, ein Haus oder Land besitzt, merkt in seinem abgezäunten Freiraum schnell, dass sich die Angst im Hinterkopf breitmacht: Jemand könnte es einem wegnehmen. Dann kann man der Angst gut zureden und ihr erklären, wie unwahrscheinlich es in Deutschland ist, aber sobald man den Besitz für seine Kinder geschaffen hat, ist die Angst da und bleibt. Sie hat ihre Berechtigung und wird verdrängt, weil man mit ihr nicht leben will.
Wer Eigentum hat, muss Regeln aufstellen, muss sich den Besuchern nicht anpassen, sondern die Besucher müssen sich dem Besitzer anpassen. Ich passe mich gut an, bin ein friedlicher Parasit und wechsle, aus Sehnsucht nach den Freiräumen meiner Kindheit, die umzäunten Orte an jedem Schön-Wetter-Wochenende. Dann bilde ich mir ein, ich sei überall zuhause, genau wie ich es als Kind empfunden habe. Beharrlich halte ich an meinem nichtfunktionierenden Plan fest und zeige meinen Kindern, wie ich unsere Welt gerne hätte: Alle sollten sich alles teilen und ihre Türen öffnen, anstatt sie zu verschließen. Aber meine Kinder haben längst herausgefunden, dass es so nicht ist.
Jetzt aber wirklichwirklich!
Liebe Mitmenschen, 08-Überleber und Temporär-Checker!
Hallo hier und jetzt zur ersten Kolumne im neuen Jahr. Lasst uns „Prost!“ rufen...
12. Januar 2009VonKai LypseKommentare deaktiviert für Knall! Bumm! Peng!