Go west!

Das Kind ist schon ganz schön herum gekommen in seinem jungen Leben. In nur zehn Monaten erweiterte es auf furchterregende Weise seinen Aktionsradius. Erst erkundete es Wohnung und Balkon, dann die Straßen rings herum. Es folgten erste Ausflüge an den Müggelsee, den Langen See und die kleine Pfütze im Volkspark Friedrichshain. Das klappte, weil es seine Eltern instrumentalisierte und noch dazu lamentierte, es könne ja schließlich noch nicht selber laufen. Jeden Tag entfernte es sich weiter von seiner Heimstatt. Auf diese Weise erreichte es, was seine sächsische Oma in vierzig Jahren nicht erreicht hatte – Spanien. Ole´! Es war schön dort, aber leider nur eine Stippvisite. Also doch wieder Entengucken an der Wuhle mit der „Ost“-Oma. Dann kam der große Tag, an dem das Kind einen der geheimnisvollsten und exotischsten Orte dieser Welt kennenlernen sollte. Kaum jemand, der in und um Köpenick wohnt, hat diese Stadt, deren Namen man nur raunt, je besucht. Sie war einst das Zentrum eines Weltreiches. Ein großer dicker König regierte dort unendlich lange Zeit und sicherte sich seine Macht und Leibesfülle mit großen Portionen pfälzischer Fleischgerichte. Die Menschen fürchteten und verehrten diesen wabbeligen Mann. Wir aber wollten es wagen - und lösten Fahrkarten nach Bonn. Ganz in der Nähe wohnt in einem verwunschenen kleinen Dorf die „West“-Omi des Kindes. Tagelang hatte sie das Haus gewienert und Berge von Sauerbraten für die Verwandtschaft aus dem Osten vorgekocht. Der Keller der Oma war mit Vorräten gefüllt, die Tischdecken gestärkt und der Kirchenkinderchor zum Bahnhof bestellt. Derweil hatten die Eltern in Berlin das Kind herausgeputzt, Breirationen für die lange Fahrt vorbereitet und zwanzig neue Kinderlieder einstudiert. Alles, damit die Zugfahrt erträglich wird. Und dann das. Lokführerstreik. Nie haben wir uns einsamer gefühlt als an diesem Morgen früh um acht am Ostbahnhof. Statt in Bonn findet das Treffen mit der Oma nun in Spanien statt.

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