„Unser ‚tintenklecksendes Säkulum‘ hat auch auf dem Gebiet der Leibesübungen Dinge gezeitigt, die zum lächerlichsten und abgeschmacktesten gehören, was schreibselige Gedankenlosigkeit je hervorgebracht hat... Unsereins erlaubt sich nicht nur diese Errungenschaft englischen Aftersports, sondern auch das Fußballspiel selbst nicht nur gemein, sondern auch hässlich und widernatürlich zu finden.“ Dermaßen pestete im Jahr 1898 ein schwäbischer Turnmeister namens Karl Planck, beschrieb die Furcht des deutschen Biedermanns, „eine Generation von Mutanten, die unproportioniert mit gewaltigen Schädeln und Klumpfüßen wild durch das Reich marodieren und dem ästhetischen Turnen den Garaus machen“, würde infolge grassierender „Fusslümmelei“ erwachsen. Und irgendwie sollte er recht behalten, der arme Mann. Denn mittlerweile soll er Gemeingut hierzulande, ja gar in beinahe aller Herren Länder geworden sein, er, der Fußballsport, sei des Lebens schönste Nebensache, rund wie die Welt, ein Spiel, das immer irgendwie neunzig Minuten dauert, wobei das Runde stets ins Eckige muss und nach dem Spiel vor dem Spiel ist. Einfach, verständlich, schön.
Die Geburtshilfe einer weltumspannenden Idee benötigt intellektuelles Format. Dieses besaß Dr. phil. Konrad Koch. Der hatte nun, ach!, Philologie und leider auch Theologie! durchaus studiert mit heißem Bemühn, war zum gymnasialen Wissensvermittler alter Zeiten und noch älterer Sprachen in Braunschweig worden. Doch der gescheite Mann hatte die Zeichen seiner Zeit recht erkannt und gründete 1875 den ersten deutschen Fußballverein und legte – Ordnung muss sein – das erste deutsche Fußball-Regelwerk bei.
Regeln waren gut, denn die Welt und ihre Zeit krachten in allen Fugen, als das 20. Jahrhundert heraufgezogen kam. Selbst in die Beschaulichkeit märkischer Wald- und Wiesenlandschaft brach seinerzeit das Neue unaufhaltsam seinen Weg. Wo kurz zuvor einsam ein paar Baumwollspinner ihr Tagwerk verrichteten, schnaubte die Eisenbahn, wurden mondäne Villen und kolossale Bürgerhäuser in den Sand gesetzt, ein Kurort wurde Friedrichshagen im Jahre 1880. Lebensreform hieß die Devise schlauer Köpfe, die sich mittenmang all des bürgerlichen Wohlstands niederließen, um als literarische Avantgarde die Moderne einzuläuten – wenn man es sich schön reden wollte, sprach man von einem „Musenhof am Müggelsee“.
Großformat im Kleinen, intellektueller Impetus und Künstlertum, Wohlstand – der Aufbruch in neue Zeiten. Was da noch fehlte, richtig, es war der Fußball. Stimmt nicht. Denn hier in Friedrichshagen fehlte es bereits vor einhundert Jahren an rein gar nichts. Im Gegenteil. Nicht einmal an Fußball en gros: Für manch Einen überreichlich tobten die situierten Herren mit ihren Söhnen nämlich zwischen Kiefern über Kraut und Wurzel, jagten dem runden Leder hinterdrein. Im September 1906 fand das erste für Friedrichshagen überlieferte Fußballspiel statt: Die einheimische Victoria 89 unterlag dabei mit 0:5 Toren gegen FC Arminia-Urania. Aber Victoria! lautet das Signal aus Friedrichshagen an die große Fußballwelt. Gleich sieben weitere Vereine starten um 1910 den Angriff auf Gegners Tor und Bein. Saxonia 1908 Friedrichshagen und Gloria 09, VFB 1909 und FC Allemannia 1911, Friedrichshagener FC Union und Rapide Friedrichshagen sowie Friedrichshagener FC Preußen heißen die. Erbittert wurde gerungen und getreten um die lederne Vorherrschaft vor den Toren der Weltstadt. Die schwarzgelbe Saxonia und Rapide Friedrichshagen vorneweg.
Wer meint, ausufernder Enthusiasmus auf dem Fußballplatze ende mit Knochengrätsche und Wadenbeinbruch, wo Kommerzialisierung und Professionalisierung der Leibesübungen beginnen: Er irrt. Skandalfähig waren die Fußballer – auch in Friedrichshagen – bereits 1910. So am 7. August des Jahres, als sich Saxonen und Rapide zu – so sah es das Programm vor – „freundschaftlichem“ Vergleich auf dem gemeindeeigenen Sportplatz in der verlängerten Kirchstraße (heute ist das ungefähr dort, wo sich der nagelneue Tartan-Kleinfeldplatz der Bölscheschule befindet) begegneten. Mit den Freundlichkeiten hatte es ein baldiges Ende, als die ersten Tritte an Gegners Knochen krachten. Eine zeitgenössische Postille wusste im Nachgang zu berichten: „Infolge des scharfen und unfairen Spiels einer Partei kam es desöfteren zu Reibereien. Zwei Verletzte waren die Folge. Beide also nur zu zehnt. Nach Halbzeit setzte wieder der scharfe Kampf ein, Saxonia gelangen einige schöne Durchbrüche, aber kein goal. Bald mussten wieder zwei Spieler (verletzt) das Spielfeld verlassen. Beide also zu neunt. Rapide konnte nun einige Treffer erzielen, da die besten Spieler von Saxonia kampfunfähig gemacht wurden. Die Leitung des aufregenden und scharfen Spiels ließ sehr zu wünschen übrig! Endstand 7 : 0 für Rapide Friedrichshagen.“
Raue Zeiten, bei denen man vielleicht auch die Lust am (noch) ungepflegten Rasen und dem auf ihm betriebenen Sport hätte verlieren können. Das Gegenteil schien der Fall. Denn am 3. Oktober 1912 gründete sich bereits der nächste Friedrichshagener Fußballverein. Und der sollte Geschichte schreiben! Bis in unsere Tage, womit er zu den Seltenheiten des großen DFB, zu den Methusalemerscheinungen des Deutschen Fußballbundes, des größten Einzelsportverbandes der Welt, gehört.
Angefangen hat es patriotisch-kaisertreu im ehemaligen „Seeschlösschen“, der späteren Seeresidenz am Müggelsee, wo vier junge Männer mit Namen Noster, Freitag, Pingel und Rudno- Rudczinsky ihre Gründung „SC Hohenzollern 1912 Friedrichshagen“ nannten. Es ist das Jahr, als bei den Olympischen Spielen in Stockholm eine deutsche Fußballmannschaft ihre russischen Kollegen mit 16:0 vom Platz fegt und in Hessen und in Sachsen und in Braunschweig – dort hatte man schließlich die längste Erfahrung mit dem Rumor – das Fußballspielen an „hohen Feiertagen“ wegen der „mit Geräusch verbundenen Belustigung“ verboten wurde. Für Belustigung sorgten die Hohenzollern im Brandenburgischen und in Berlin selbst sehr bald. Und zwar sportlich erfolgreich zur eigenen Freude. Als Jugendverein schloss man sich dem Berliner Fußballverband an und schaffte 1913/14 den Aufstieg aus der C-Klasse. Im darauffolgenden Jahr wurde bereits die Jugendmeisterschaft der B-Klasse gefeiert. Selbst den Wirren des Weltkrieges zum Trotz trug man Spiele aus. Dafür wurde der Waldsportplatz im Hirschgartendreieck genutzt.
Als der Kaiser vom Throne abdankte und seinen Volk den Rücken nur noch aus Holland zukehrte, wenden sich die Sportsfreunde namentlich von ihm und heißen ab Januar 1919 „SC Burgund 1912 Friedrichshagen“.
Als solche sind sie seit 1922 ein eingetragener Verein und ein guter Begriff für jeden, der in Berlin dem Fußball seine Aufmerksamkeit schenkt. Und Aufmerksamkeit verdient allemal, was es heute über den Friedrichshagener Sportverein 1912 e.V., wie sich die Burgunden seit dem Jahr 2007 nennen, zu erzählen gibt: Amüsante und nachdenkliche Geschichten rund um den Fußballsport, über die kleinen und großen Lebensfreuden, von Skandalspielen und Pokalhelden, von Lokalderbys, die ganze Familien über Jahre teilten, von vereinter Aufmüpfigkeit gegen realsozialistische Willkür, von harten Männerbeinen und erfolgreichen Mädchen am Ball, von echtem Volkssport gestern und heute. Ein Blick auf Dinge, die mehr sind als die schönste Nebensache der Welt, demnächst an gleicher Stelle und unter:
Marcel Piethe: Lederleidenschaft vorm Weltstadttor, Hundert Jahre Fußball in Friedrichshagen.
1. Auflage 2012, 160 Seiten, zahlreiche historische und rezente Fotos, 14,8 x 21,0 cm, gebunden, Euro 16.80, ISBN 978-3-930388-71-4
Feierlichkeiten im Jubiläumsspiel:
12. Mai 2012: Freundschaftsspiel gegen 1. FC Union Berlin
3. Oktober 2012: Festakt im Kino Union
Mehr Informationen: www.fsv1912.de
Teilnahme am Gewinnspiel über das Maulbeerblatt-Kontaktformular.
Das Skandalspiel – Buchverlosung
Aktuell, Editorial
Dezember im Kalender!
Mit dem Dezember gehen eine ganze Reihe Dinge zu Ende oder sind unwiederbringlich dahin: das Jahr 2007 zunächst einmal,...
Zeitreisen
Der Fall Wagner
„Daß sie heiter und tief ist wie ein Nachmittag im Oktober. Daß sie eigen, ausgelassen, zärtlich, ein kleines süßes Weib...
Alfs Allerlei
Die Erfindung des Jahrhunderts
Es war einmal ein gewisser Herr Schneef. Das klingt für unsere Ohren ungewohnt, aber in seinem Heimatstädtchen Väärlsköög ist dieser...