Aber was soll ich sagen, dieses Mal kommt es anders. Der goldene Bär geht an den beeindruckenden Dokumentarfilm „Sur L’Adamant“, der Patientinnen und Patienten auf dem Schiff eines psychiatrischen Tageszentrums in Paris porträtiert. Und das völlig zurecht.
„Wer nicht verrückt ist, ist verdächtig“, verkündete der Regisseur nach der Premiere auf der Bühne - diese Botschaft hätten ihm die Protagonist/innen des Films mitgegeben. Vielleicht kennen sie die Redewendung „du bist verrückt mein Kind, du musst nach Berlin“, und ahnten, dass ihr Film auf der Berlinale ganz gut aufgehoben ist.
Die gefilmten Menschen stecken voller Poesie, Musik und Kunst. Und sowohl der Einrichtung als auch dem Film gelingt es, diesen Schatz trotz aller psychischen Probleme in den Vordergrund zu stellen.
So kommt es also, dass der 19 Filme umfassende Wettbewerb, in dem nur eine einzige Dokumentation läuft, genau diese zum besten Film erklärt. Die Abbildung der brüchigen Realitäten erscheint aktuell imposanter, emotionaler und dramatischer, als die Inszenierung konstruierter Geschichten.
Eine zweite Auszeichnung freut mich sehr: Die 8-jährige Sofia Otero, Hauptdarstellerin eines Transgender-Dramas, gewinnt den silbernen Bären (oder müsste es nicht besser Bärin heißen?) für die beste Schauspiel-Leistung - die jüngste Preisträgerin aller Berlinalen.
In „20.000 Species of Bees“ leidet die von ihr gespielte Lucia unter ihrem männlichen Geburtsnamen und der Überforderung ihrer Mutter, die mit Liebes-Aus und beruflichem Neustart schon genug zu tun hat. Während des Urlaubs bei der Oma im Baskenland wird eigentlich ein Cousin getauft. Doch die wahre Taufe veranstaltet Lucia selbst, als sie dank ihrer Großtante und deren Bienenvölkern das Bestimmen über ihre Identität selbst in die Hand nimmt.
Wie eine 8-Jährige solch eine Rolle so emotional und überzeugend spielen kann, ist mir unbegreiflich. Noch ist kein Kinostart angekündigt. Aber das Drama ist so aktuell und dazu noch toll erzählt, dass es ins Kino kommen muss.
Bei Verleihern und Kino-Betreiberinnen wird diese Aufforderung sicherlich ankommen, hat die maulbärige Berlinale Beobachtung doch so einige Aufmerksamkeit erfahren. Nicht anders zu erklären ist jedenfalls, dass Harald Martenstein in seiner bekannten Kolumne im neuesten ZEIT-Magazin die Idee mit der Kolumnen-schreibenden KI ChatGPT übernahm.
Nutzen wir also die Gelegenheit für einige weitere Botschaften zum Ende des Festivals:
- Wenn Sean Penn schlechte Filme macht, muss man ihn nicht einladen, nur weil er Sean Penn heißt.
- Deutschland kann offensichtlich gute Dokus und Filme machen, dann lasst sie doch einfach mal zur besten Sendezeit im Fernsehen laufen.
- Wenn die Ticketpreise über 15€ hinaus noch weiter steigen, wird aus dem Publikums- ein reines Oberschichtsfestival.
Nun läuft der Abspann. 42 Filme habe ich gesehen, die Augen sind eckig, der Arsch platt. Film aus, Licht an, bis nächstes Jahr.