Wieder stirbt ein Jahr

Was machst Du denn so an Silvester?
Noch windet es sich, ein letztes Aufbäumen, schwer atmend zieht es alle Register, um nicht vorzeitig aus der Welt zu scheiden. So leid es mir tut, mein liebes, fast vergangenes Jahr, Deine Tage sind gezählt, nur wenige Stunden, Du hängst in den Seilen wie ein Schluck Aule in der Kurve.  Es hilft nichts, der Rundengong wird Dich nicht retten. Es gibt kein Mitleid, keine Gnade. Gehst Du, kommt ein Neues. Adios, mein lieber Freund! Time to say Auf Wiedersehen.

Ein rostiges 2024 grüßt schon fast aus der Vergangenheit
Foto: Yaraslau Saulevich via iStock

Wenn ich so ein Jahr wäre, wenn ich nur 12 Monate Zeit hätte, ich würde, so glaube ich, doch anders leben als jetzt. Es gäbe keinen Müßiggang, keine Selbstzweifel, keine Sentimentalitäten. 12 Monate Vollgas, alles mitnehmen, was sich bietet. Fressen, Saufen und alles, was bei 2 nicht auf dem Baum ist, das  würd´ ich, na sie wissen schon, ganz egal, ob es Puls hat oder nicht.

Aber ich bin kein Jahr, ich bin ich, und das schon seit vielen Jahren, sehr vielen Jahren. Ich bekomme neuerdings immer einen Riesenschreck, wenn ich nach meinem Alter gefragt werde. Schon weit drüber, die nächste Null zum Greifen nahe. Ja, viele Jahre habe ich zusammengesammelt, eine schreckliche Zahl. Verglichen mit dem Erdzeitalter natürlich near nothing, auf Deutsch gesagt, jedoch genügend, um für einen gelben Urlaubsschein immer eine glaubwürdige Erklärung parat zu haben.

Nicht ohne Stolz kann ich behaupten, dass ich mich an fast alles und viele Details erinnern kann. Ich habe viele gute Entscheidungen getroffen, klar waren auch diverse Fehltritte dabei und mehr als nur einmal bin ich falsch abgebogen, Sackgasse übersehen und  den ganzen Weg zurück. Auch wenn ich nicht alles genauso noch einmal machen würde, ich bereue nicht viel und jedes Jahr war es wert, es gelebt zu haben.

Aber wie schafft es ein Jahr eigentlich, in der Erinnerung zu bleiben? Ganz klar: Als erstes eine grobe Einteilung. Vor dem, nach dem Mauerfall, vor und nach 9/11, vor oder nach Corona, Honecker, Kohl, Merkel, Lauterbach. Den peinlichen Schröder kann man getrost vernachlässigen, es zählen für mich nur die großen Fauxpas´.

Jetzt die Feinabstimmung. Wie? Na, genauso.  Highlights, Schlüsselerlebnisse, Meilensteine. Die hat man am Jahresende doch schnell an den Fingern abgezählt, wenn das nicht reicht, nimmt man eben klassischer Weise die Zehen mit zur Hilfe. Dann schnell in der Phantasie eine imaginäre Tabelle aufgestellt, ganz vorn, hinter den Stirnlappen, im Arbeitsspeicher. Links, positiv, rechts negativ, in der Mitte ohne Wertung, Strich drunter, Strich links, Strich rechts, 3 Spalten 12 Zeilen, alles frei Hand, nach unten verjüngend oder auch mit einem schönen Pissbogen in der Mitte. Frei Hand eben. Und dann rein den ganzen Rotz, irgendwo abgelegt, in meinem Hirn sieht es aus wie auf meinem Schreibtisch, nur das Genie durchblickt das Chaos.

Jetzt, wo die Formalitäten geklärt sind, da gehen wir mal mit dem dahinscheidenden Jahr in den kritischen Dialog. Wie ging es los? Reingefeiert, das gehört sich nun einmal so, mit Freunden, im RFT, Feucht fröhlich sogar und trotzdem senkrecht nach Hause. Der 1. Januar ist immer das Selbe. Der ist für´n Arsch, kannste getrost in die Tonne wandern lassen.

Januar, Februar, grau in grau, kaum weißes vom Himmel, nichts ungewöhnliches mehr, leider. Bei uns schneits halt anders, gab einst Falco zum besten. Viel zu warm für die Jahreszeit und doch zu kalt. Mir jedenfalls, obwohl so ein Winter mit Schnee und dem ganzen Pipapo fände ich gar nicht schlecht.

Dann März: Karten für New Model Army in Huxleys Neuer Welt. Ich freue mich auf die Helden meiner wilden Jahre und man präsentiert uns eine der schlechtesten Vorbands ever. Ausgewählt auf der Besetzungscouch tanzen auf der Bühne zwei leicht bekleidete Damen zu Preset-Beats eines 16 Bit Drumcomputers. Ein Ian Dury Imitataor hat sich eine E Gitarre umgehanden und zeigt eindrucksvoll, dass er sie nicht spielen kann. Dann NMA, 3 oder vier Songs, es ist halb 11 und mein Stehvermögen lässt nach. Nicht nur zwischen den Beinen.

April, Ostern, kurz verschnaufen, dann weiter schuften, abrackern, Urlaub in Sicht, jedoch noch nicht zum Greifen nahe. Endlich Mai, die vielen Feiertage bescheren mir einen langen Urlaub, auf nach Frankreich, die Normandie, 80 Jahre D- Day stehen kurz bevor, die alten Wunden verheilt, die Narben spürt man noch.

18.Mai, letzter Spieltag. Es geht um alles, wir sitzen am Strand von Agonville. Verdient haben sie es nicht, die Brüder, aber als leidgeplagte Immerunioner bangen wir aus der Ferne mit, 1:0, Ausgleich, Elfmeter, Haberer mit dem Nachschuss, 9 Minuten Nachspielzeit, 9 Minuten bangen. Die Frau manifestiert den Sieg in mit einem spitzen Stock im Sand, die Flut spült ihn hinfort mit Symbolcharakter, nach der Saison ist vor der Saison.

Im Juni stirbt mein Vater, ist das nun ein Grund, das Jahr zu feiern? Natürlich nicht. Er wird mir fehlen. Ein heißer Sommer. Irgendwo jedenfalls. Ich arbeite in klimatisierten Räumen, da ist es mir doch egal, ob es wärmer oder kälter wird.

Im September noch einmal Urlaub. Nordsee, Ostsee. Zu den allerschönsten Orten.  Mit dem Auto, mit dem Rad. Heiligendamm, die Pizza würde 28 € kosten, die Frisur sitzt, 3 Wetter Taft. Weiter nach Sylt, zu den Reichen und Schönen. Deutschland ist so schön. Und Deutschland ist so reich. Reicht wohl aber trotzdem nicht für alle aber immerhin reicht es noch für das 49 € Ticket. Hurra, zu meiner Freude gibt es wieder Punks in Westerland.

Wieder zurück in Berlin, wir haben Karten für Madness im Tempodrom. Tausende Skinheads ebenso. Hätte gar nicht gedacht, dass es die noch so zahlreich gibt. Die Musiker auf der Bühne wirken müde, alt, abgedroschen. Die Stimmung ist aggressiv, das Bier ist warm, schal und kostet 6,50 €. Kein Schnapper und wegen mangelndem Stehvermögen frühzeitige Heimreise. Das letzte Mal zu Madness im Jahr 2024, so prägt man sich die Dinge ein.

Keine 2 Wochen später, wir haben Karten für Cannibal Corpse im Astra. Das gekühlte, gleichnamige Bier kostet 4,50 €. Drei völlig irre Vorbands machen das Warten auf unsere Helden des Todmetalls kurzweilig, die Atmosphäre ist au contraire der Musik, wir Metaller respektieren einander.Der Sohn mahnt zur Vorsicht und wir stellen uns abseits der langhaarigen Headbanger. Die Musik ist brutal, nichts für schwache Ohren. Der Corpsegrinder trägt ein Shirt auf dem „Respect the Neck“ steht und lässt sein Haar kreisen, dass es eine Art hat. Schäme Dich, Bylent Ceylan, für Deine lasche Performance.

November. Der Klassenerhalt in Liga 1 scheint nur möglich, weil Bochum, Kiel und Pauli noch schlechter aufspielen als wir. Von vorweihnachtlichem Stress ist noch nicht viel zu merken. Wen wunderts bei 15 Grad und nadelspitzenscharfem Nieselregen.

Dezember, Stress und Hektik halten allmählich Einzug, besonders für Paketfahrer. 4:1 in Bremen.Weihnachtssingen an der alten Försterei? Ohne mich, ich schaue mal kurz beim RBB rein.

Man kann die Qualität eines Jahres vielleicht auch daran bemessen, wie sehr sich Familie Arbeit beim jährlichen Blasen verbessert hat, schon etwas Fremdschämen, oder?

Weihnachten selbst geht mir alle Jahre wieder echt am Arsch vorbei, dennoch nutze ich den heiligen Abend und verbringe Zeit im Kreise der Familie und wie jedes Jahr mit Loriot am Fernseher. Wohlsein, Herr Blümel. Zu viel Fressen vor den Feiertagen, an den Feiertagen, nach den Feiertagen. Da reifen gute Vorsätze.  „Wenn es am schönsten ist, soll man aufhören,“ schreit mir das Jahr 24 entgegen. „War schön mit Dir, bist was ganz besonderes.“antworte ich mit einem Augenzwinkern und möchte meine Ausführungen jetzt mit einer offenen Frage schließen: Was machst Du denn so an Silvester?


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