Wohnungsbau verhindern

Obergrenze für die Rathenau-Hallen
War es eine „parlamentarische Posse“, die die Bezirksverordneten von Treptow-Köpenick auf ihrer Sitzung Anfang März gegeben haben? Oder hatte man einen „Kompromiss“ gefunden, wie es der Fraktionschef der Linken, Philipp Wohlfeil, formuliert? Auf der einen Seite hatte sich ein breites Bürgerbündnis dafür eingesetzt, Wohnungsbau in den historischen Rathenau-Hallen an der Wilhelminenhofstraße zu verhindern. Auf der anderen Seite standen – bis auf die Grünen – alle Fraktionen der BVV, die zugunsten einer denkmalgerechten Sanierung Rücksicht auf den Investor nahmen. Die Vertreter der Bürger, so genannte Vertrauenspersonen, fühlten sich überrumpelt, gingen aber nicht ohne Hoffnung nach Hause.
OSW Rathenau | Foto: Matthias Vorbau   Unter dem Tagesordnungspunkt 14.1. stand ein Einwohnerantrag zur Diskussion. Ein Bürgerbündnis, bestehend aus drei Interessengruppen, unter anderem der Bürgerplattform SO! MIT UNS, hatte ihn eingereicht. Mit 1.614 waren mehr als die 1.000 erforderlichen Unterschriften zusammengekommen. Solch ein Antrag berechtigt Bürger, sich kommunalpolitisch Gehör zu verschaffen und hat denselben Stellenwert wie ein Fraktionsantrag. Inhaltlich ging es um den Bebauungsplan 9-58 (Rathenau-Hallen), der seit Sommer vom Bezirksamt aufgestellt wird, immer in Absprache mit der Eigentümerin. Diese, die Toruro GmbH mit Hauptsitz in Irland und in Berlin, von Ex-Bausenator Peter Strieder vertreten, plant Investitionen: Außer der denkmalgerechten Sanierung des einstigen Transformatorenwerks in Oberschöneweide stehen in den Hallen Wohnungen auf dem Programm. Am Spreeufer sind Gebäude für weitere Eigentumswohnungen geplant – bis zu 50.000 Quadratmeter insgesamt. Dagegen hat sich das Bürgerbündnis formiert. In den Rathenau-Hallen haben sich in den letzten Jahren 70 Firmen mit über 700 Mitarbeitern angesiedelt, Tendenz steigend, darunter Unternehmen aus Wissenschaft, Technik und Kreativwirtschaft. Auch Künstler betreiben in den Hallen ihre Ateliers. Pfarrer Joachim Georg sieht in dieser Entwicklung Zukunftschancen. Er ist die Vertrauensperson der Bürgerplattform SO! MIT UNS und hat als solche den Einwohnerantrag auf der BVV vertreten. „Zwischen Wohnen und Arbeiten entstehen erfahrungsgemäß Nutzungskonflikte. Lärm, Gerüche, Lieferverkehr – all das kann den Unwillen von Mietern hervorrufen“, sagt er. Die Rechte von Bewohnern würden vor Gericht höher eingestuft als die Interessen der Firmen. „Wenn Anwohner klagen, bekommen sie in der Regel Recht.“ Joachim Georg weiß, dass viele Firmen darum schon vorher abwinken und Standorte mit Wohnungen in der Nähe gar nicht erst anmieten. Der Bezirk wiederum hat ein Interesse an den Wohnungen. Die Nachfrage gerade in Treptow-Köpenick ist hoch, Oberschöneweide mit der HTW hätte das Zeug, zu einem lebendigen Kiez für Studenten und Künstler zu werden. In dem Bebauungsplan soll festgelegt werden, dass das Areal Mischgebiet bleibt und der Schutzanspruch für Mieter auf einem niedrigen Niveau liegt, so dass Klagen kaum Erfolgschancen hätten. An diesem 3. März nun hatten die Bezirksverordneten über den Antrag zu befinden: Bürgerwille oder Investoreninteresse? Und nun kam es zu den Ereignissen, die Andreas Richter, Organizer bei SO! MIT UNS, als „parlamentarische Posse“ charakterisiert. „Die Linken haben einen Änderungsantrag gestellt“, erinnert sich Joachim Georg, „der wurde zugelassen, mit dem Ergebnis, dass unser Einwohnerantrag geändert und dann als Antrag der Fraktionen gestellt worden ist.“ Auf dieses Vorgehen und den gemeinsamen Antrag hatten sich die Fraktionen schon zuvor im Stadtentwicklungsausschuss geeinigt.
„Wir hätten den Arbeitsauftrag an das Bezirksamt gerne weniger schwammig formuliert.“
Joachim Georg fühlte sich überrumpelt, nicht nur weil er als Vertrauensperson keinen Einspruch erheben konnte, sondern weil nun doch Wohnen zugelassen war. Zwar nur eingeschränkt, aber der Einwohnerantrag hat dazu ein klares „Nein“ verlangt. Andreas Richter erklärt sich das Ganze so: „Die Bezirksverordneten saßen in der Zwickmühle. Den Eigentümern wollte man entgegenkommen, die Bürger nicht verschrecken. Und mit dem gemeinsamen Antrag war der Antrag der Bürger vom Tisch, ohne ihn direkt ablehnen zu müssen.“ Nur die Grünen haben das Spiel nicht mitgemacht, auf der BVV sind sie aus dem gemeinsamen Antrag wieder ausgestiegen. Fraktionsvorsitzende Andrea Gerbode sagt: „Wir hätten den Arbeitsauftrag an das Bezirksamt gerne weniger schwammig formuliert.“ Im Antrag, den die Fraktionen gestellt haben, heißt es zwar, „insbesondere Wohnnutzung soll nur ausgewiesen werden, wenn sie der übergeordneten (Gewerbe-) Entwicklung nicht entgegensteht, diese gefährdet oder einschränkt“. Außerdem soll ein Viertel der vorgesehenen Wohnungen nicht teurer als 6,50 Euro pro Quadratmeter sein. Und schließlich geht Denkmalsanierung vor Wohnungsneubau. Aber in der Praxis hält die Fraktionschefin der Grünen diese Vorgaben für untauglich. „Beispiele im Prenzlauer Berg sollten uns eine Lehre sein.“ Da seien Nutzungskonflikte zwischen Mietern und Gewerbetreibenden erst später aufgeflammt. „Mit der jetzigen Formulierung ist der Spielraum groß.“ Das Areal als Mischgebiet auszuwiesen, lasse es zu, Gewerbe und Wohnen im gleichen Umfang zu entwickeln, theoretisch sei genauso viel Wohnwie Gewerbefläche möglich. Außerdem schließen sich die Grünen dem Argument des Bürgerbündnisses an: „Eine Genehmigung für Wohnbebauung weckt Begehrlichkeiten bei benachbarten Investoren und löst einen Dominoeffekt aus“, so Gerbode. Phillip Wohlfeil verteidigt den Parteienantrag: „Die Bürger verlangten ein einfaches ,Nein‘. Aber die Bezirksverordneten müssen Perspektiven bieten.“ Er, Wohlfeil, habe den Einwohnerantrag selbst unterzeichnet, weil er einen wichtigen Impuls ausgelöst habe. „Er hat klar gemacht, dass die Menschen im Kiez nicht nur wohnen, sondern auch arbeiten wollen. Aber um die Rathenau-Hallen denkmalgerecht zu sanieren, will die Eigentümerin auch Gewinne einstreichen.“ Ein Zugeständnis, das man machen müsse. „Wir werden die Nachbarschaft unter Milieuschutz stellen, um dem Verdrängungseffekt vorzubeugen. Aber mit dem bloßen ,Nein‘ wäre das Bebauungsplanverfahren gekippt, der Investor hätte das Interesse verloren, und die Politik hätte den Zugriff auf die Entwicklung verloren.“ Joachim Georg und seine Mitstreiter befürchten allerdings, dass diese Sicht eine Fehlinterpretation darstelle. Er hat den Eindruck, der Investor spekuliere darauf, dass ein gewisser Wohnanteil im Bebauungsplan ausgewiesen wird. Aber nicht um dann selber frisch ans Werk zu gehen, wie die Bezirksverordneten glauben, sondern um die Hallen, die Toruro vor zwölf Jahren günstig erstanden hat, mit satten Gewinnen wieder zu verkaufen.“ Beweisen kann Joachim Georg das nicht. Aber er hat eine Reihe von Indizien ausgemacht, die für ihn darauf hindeuten. „Künstler erhalten nur kurzfristige Mietverträge, Firmen werden nicht mehr angeworben, Professoren der HTW sollen sich schon für Wohnungen angemeldet haben – wissen aber davon gar nichts.“ Das seien Mittel, die niemand anwenden müsse, der lautere Absichten verfolgt. Dennoch besteht Hoffnung: In vielen Dingen decken sich die beiden Anträge, und die jetzige Fassung lässt Spielraum um weiterzukämpfen. Der Bezirksdenkmalrat biete den Ausweg, die „einzigartige Industrielandschaft im Rahmen des ,Elektropolis‘-Konzepts für das UNESCO-Weltkulturerbe vorzusehen“. Da hätten Wohnungen wohl keine große Chance. Und Bezirksbürgermeister Oliver Igel sagt, die Stadtplanung halte auf dem gesamten Gelände bis zu 25 Prozent Wohnungsbau für möglich. Zu wenig für den Investor, aber der Bezirk will diese Obergrenze durchsetzen.
kwo Bis 1890 war Oberschöneweide eine rein ländliche Region. 1897 wurde hier durch die AEG das erste Drehstrom-Kraftwerk Deutschlands gebaut. Zugleich nahm das Kabelwerk Oberspree seinen Betrieb auf. Die technischen Entwicklungen und die Nachfrage nach neuen Produkten überschlugen sich. Zu jener Zeit ließ die AEG diverse Hallen und Stockwerksfabriken errichten. Ab 1920 begann die Produktion von Hochspannungsund Stromverteilungsanlagen. Die AEG Transformatorenfabrik belieferte Kraftwerke und Elektrizitätsgesellschaften auf der ganzen Welt. Nach 1945 wurde die Produktion unter wechselnden Eigentümern fortgesetzt. Mit dem Ende der DDR kam es zum Zusammenbruch des Industriezweiges und 1995 musste das Werk schließen. Wo früher das KWO war, vollzieht sich heute hinter den traditionellen Backsteinmauern eine Wandlung zu einem zeitgemäßen Wirtschaftsstandort, orientiert auf Forschung und Entwicklung, Dienstleistung sowie Film- und Medien.

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