Über die Hälfte von ihnen überlegte sogar, sich ganz vom Produkt Profifußball abzuwenden. Die Pandemie und ihre Folgen für den Fußball – Spiele ja, Fans nein durch Geisterspiele – haben diese Haltung verstärkt. Der Sportwissenschaftler Harald Lange hat mit seinem Team vor wenigen Monaten eine Studie namens Deutsche Fußball-Basis 2022 veröffentlicht, die den Rückhalt des Fußballs bei seinen Fans erodieren lässt: Jeder zweite befragte Fan findet, dass die Verbände nicht hilfreich für die Organisation des Fußballs sind. Der Deutsche Fußball-Bund (DFB) hat seine Glaubwürdigkeit vollends verloren und hat eine Mehrheit der Fans gegen sich.Â
Der Fußball muss sich verändern
In seiner momentanen Gestalt ist der Fußball die Verkörperung einer Wirtschaftsordnung, die unser Leben bestimmt, unsere Hobbys marktkonform macht und uns Freiheiten nimmt. Wir entdecken die Auswüchse des Kapitalismus im Spiel um das runde Leder. Die Fußballweltmeisterschaft der Herren steigt im November in Katar und damit in einem der Länder, in denen der Bausektor weltweit am stärksten boomt. Arbeitsmigration, katastrophale Arbeitsbedingungen und vollständige Abhängigkeit vom Arbeitgeber stehen dort an der Tagesordnung und verknüpfen das Leid des Kapitalismus mit Fußball.
Wir müssen über eine Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft reden, die Recherchen zufolge mindestens 15.000 Menschen das Leben kostete. Pro Spiel dieser WM mussten 234 Menschen sterben, wegen Hitze, Erschöpfung und unzureichender Absicherung des Arbeitsplatzes. Profiteure der systematischen Ausbeutung sind vor allem deutsche Unternehmen: So hat ein deutsches Architekturbüro die Bewerbung Katars für die WM miteingereicht und ganz nebenbei hat die Deutsche Bahn den Zuschlag für den Aufbau der Verkehrsinfrastruktur rund um die Stadien erhalten. Der moderne Fußball verkauft sich und in deutschen Chefetagen knallen die Korken.Â
Wenn wir uns fragen, welche Werte wir mit Fußball verbinden, sollten Ausbeutung der Natur und des Menschen für viel, viel Geld eigentlich nicht in der Überlegung auftauchen. Und doch sind sie untrennbarer Teil eines Sports geworden, der für viele nur noch Leid und Ungerechtigkeit bedeutet. Ein Fußball, der seinen Kern verrät, um damit Geld zu verdienen.
Toleranz, gegenseitiges Lernen voneinander, Kommunikation und die simple Freude am Sport gehen verloren, wenn der Fußball im Kapitalismus nach dessen Sachzwängen funktioniert: immer auf der Suche nach dem eigenen Vorteil. Anstelle der Fans als gesellschaftlicher Anker dieses Sports rationalisiert sich der Fußball in Ticketeinnahmen, Merchandise-Verkäufen und Sponsoren-Deals. Die Fans im Stadion machen das Spiel zwar erst zu dem, was es ist. Aber auf dem Papier machen sie nur noch ein Viertel der Gesamteinnahmen aus. Fans vor Ort sind unwichtig: Die Pandemie hat das bewiesen.
Die Sehnsucht nach einem anderen Fußball ist dennoch da
Fragt mal in der Abseitsfalle bei den Stadionverbotlern nach, die über längere Zeiträume - meist ohne konkrete Vorwürfe und in einem Akt der Vorverurteilung (Stadionverbote werden zunächst ausgesprochen, vollstreckt und können dann erst juristisch angefochten werden) - von ihrem liebsten Hobby ausgesperrt sind. Ihre Sehnsucht nach dem Stadion ist spürbar und in dieser Sehnsucht liegt Freiheit.
Diese Sehnsucht nach Freiheit ist es, die einen anderen Fußball entstehen lassen kann. Einen Fußball, der in die Hände aller Fans kommt und wirklich demokratisch organisiert ist. Nicht in einem deformierten Zustand, in dem sich alles dem Primat des Geldes und der kapitalistischen Sachzwänge unterordnet. Doch dafür braucht es alternative Strukturen: Der Fußball kann ein Probierfeld demokratischer Teilhabe sein, wir müssen es uns nur erkämpfen. Wie können wir demokratische Selbstorganisation lernen und umsetzen?
Fußball ist ein Fenster in eine bessere Zukunft
Er kann eine Nische sein, aus der ein zartes Pflänzchen der Hoffnung erwächst. Für diesen Versuch eines poetischen Vergleichs hätte mich wohl ein anderer Friedrichshagener ausgelacht, wäre er noch am Leben. Ausgerechnet Erich Mühsam, möchte man meinen, der anarchistische Schriftsteller und Lyriker, der im Friedrichshagener Dichterkreis zwischen Bruno Wille und Wilhelm Bölsche immer aneckte.
Mühsam lebte nicht nur eine Zeit lang in Friedrichshagen, er beteiligte sich mit Gustav Landauer und vielen anderen Anarchist:innen an der Bayrischen Räterepublik 1918/19. Seine sozialistischen Hoffnungen hielt er Jahre später in dem Aufsatz Die Befreiung der Gesellschaft vom Staat fest, kurz bevor er 1934 im KZ Oranienburg eingesperrt, gefoltert und schließlich ermordet wurde. Seine Sehnsucht nach Freiheit und der Gedanke, dass wahre Demokratie nur ohne Herrschaft auskommen kann, ist der utopische Ausgangspunkt eines anderen Fußballs.Â
Man kann Mühsams Gedanken als die eines Revoluzzers einer anderen Zeit verstehen, sie in die dafür vorgesehene Schublade verstauen und vergessen. Seine Idee einer selbstorganisierten, in Räte demokratisierten Gesellschaft mag für einige auf den Scheiterhaufen der Geschichte gehören, doch in der Selbstorganisation findet sich vieles von dem wieder, was wir heute so stark vermissen: wirkliche Lust am Handeln, Zugang für jeden Menschen zum öffentlichen Raum der Politik, keine Parteipolitik, die Kraft des besseren Arguments.
Unser politisches System scheitert an diesen Punkten, die Parlamente sind keine Orte der argumentativen Debatte und auch die vermeintlich demokratisch organisierten Fußballvereine und Verbände verharren in ihrer starren Struktur. Keine Mitbestimmung, kein Aufbruch, kein Ort, an dem alle Menschen eine Rolle spielen können.Â
Genau das aber bietet ein Rätesystem nach Mühsams Idee. Er setzte sich für eine Rätedemokratie als Gegenkonzept zu Kapitalismus und bürgerlicher Demokratie ein. Ein Rätesystem, das von unten nach oben delegiert und gewählte Räte direkt an den Auftrag ihrer Wähler:innen kettet, im Gegensatz zu dem uns bekannten freien Mandat.
Die Philosophin Hannah Arendt stellte sogar fest, dass
„die Räte bis auf den heutigen Tag die einzigen politischen Organe geblieben (sind), in denen Leute ohne alle Parteizugehörigkeit eine Rolle spielen können.“
Demokratische Strukturen, bei denen sich jede:r einbringen kann, alle die gleiche Macht besitzen und die demokratische Kontrolle jederzeit gewährt ist. Sollte das nicht selbstverständlich sein?
Der Fußball bietet die Möglichkeit einer basisdemokratischen Organisierung
Warum holen wir uns unsere Vereine nicht zurück? Wir diskutieren doch eh zuhauf über unseren Verein, den Fußball, all die Entwicklungen. Warum sollte das nicht in demokratische Strukturen gegossen werden?
Was ist daran so utopisch, dass alle beteiligten Menschen die gleiche Macht und die gleiche Möglichkeit zur Mitbestimmung haben sollen? Und wir finden diese Nischen schon heute: Beim HSV oder beim FC Köln gibt es bereits Mitgliederinitiativen (HSV Supporters in Hamburg, FC Reloaded in Köln), die Einfluss auf ihren Verein nehmen und sich basisdemokratisch organisieren.
Lasst uns diesen Ansatz weiterführen und radikalisieren! Mitgliederversammlungen und reines Wahlvolk für die soundsovielte Amtszeit eines Präsidenten und seines Präsidiums sind keine demokratische Teilhabe. Holen wir uns unsere Macht über unsere Vereine und den Fußball zurück! Oder um es mit Mühsams Worten zu sagen: „Verlern es dich zu fügen!“