Wilde Pferde

Als Chris Gueffroy ermordet wurde

Chris Gueffroy um 1988
Foto: ullstein bild - Rondholz

In der Kindheit lebt es sich einfach.
Was immer du wolltest, ich kaufte es für dich.

MICK JAGGER, KEITH RICHARD


Der Stasioffizier sagt: „Sie haben selbst gesagt, Chris sei wie ein wildes Pferd. Sie wissen doch, was man mit solchen Pferden macht, oder?“
Die Mutter antwortet: „Man erschießt sie.“ Der Stasioffizier, er nickt.

Der Tod

Es ist der Abend des 5. Februar 1989. Kurz vor Mitternacht sitzt Karin Gueffroy auf ihrem Sofa und liest ein Buch. Es fallen Schüsse. Gedanken über das Warum und Woher macht sie sich nicht.

Die Wohnung liegt in Treptow, Ost-Berlin, Hauptstadt der DDR. Die Mauer ist hier einen Kilometer Luftlinie entfernt. Ein kleines Wäldchen und die Laubenkolonien „Sorgenfrei“, „Harmonie“, „Gemütlichkeit III“ liegen zwischen dem Grenzstreifen und den Wohnhäusern. Wer in der Gegend wohnt, weiß von Kolonnenweg und Selbstschussanlage. Es werden Hasen gewesen sein.

Als Karin Gueffroy zu Bett geht, ist ihr Sohn Chris tot. Mit durchschossenem Herzbeutel liegt er auf der gefrorenen Erde des Todesstreifens an der Britzer Allee, weniger Meter vom Zuhause entfernt.

Mit seinem Freund Christian Gaudian hat er in den Schrebergärten den rechten Augenblick abwarten wollen, bis die Posten sich entfernt haben. Die beiden jungen Männer haben gehört, die DDR hätte den Schießbefehl an der Grenze ausgesetzt. Sie wollen den hohen Grenzzaun überwinden, dahinter liegt nur noch der Teltowkanal, dann der Westen – die große weite Welt.

Als die beiden die Grenzbefestigungsanlagen betreten, lösen sie Alarm am Signalzaun aus und laufen den Posten in die Arme. Drei von vier Grenzsoldaten schießen von mehreren Seiten aus ihren Maschinenpistolen.


Das Leben

Dabei hätte alles anders sein können. Der 20-jährige verfasst einen Lebenslauf:

Am 21.06.1968 wurde ich, Chris Gueffroy, in Pasewalk geboren. Meine Eltern sind der Fliesenleger A. und die Haftungsbereichsleiterin Karin Gueffroy. Von 1968 bis 1970 wohnte ich mit meinen Eltern und meinem Bruder, S. Gueffroy, der 1964 geboren wurde, in Viereck Krs. Pasewalk.

1970 zogen wir nach Schwedt/Oder. Im gleichen Jahr wurde die Ehe meiner Eltern geschieden. Seit 1973 wohne ich in Berlin. 1975 wurde ich in Berlin-Pankow eingeschult. Wir zogen dann 1976 nach Berlin-Johannisthal wo ich bis 1978 die 9. O.S. besuchte.

1978 wurde ich auf die Kinder-und-Jugendsportschule „Heinrich Rau", die dem Sportclub Dynamo angehört, berufen. Meine Sportart war Turnen. 2 Jahre besuchte ich die Sportschule. Aus familiären Gründen veranlaßte meine Mutter, daß ich die Sportschule 1980 verließ. Seit dieser Zeit besuchte ich bis zur Beendigung der 10. Klasse im Jahre 1985 die 20. O.S. in Berlin-Johannisthal.

Im September 1985 begann ich meine Lehre als Kellner, beim Mitropa-Betrieb Berlin, im Flughafen-Hotel. 1987 schloß ich meine Lehre erfolgreich ab. Ich arbeitete bis zum Nov. 1987 weiterhin im Flughafen und wechselte dann in ein Feinschmeckerlokal. Seit Febr. 1988 bin ich als Kellner bei den J60-Gastst. Berlin Mitte tätig. 

„Er war kein überzeugter Regimegegner“, sagt die Mutter über ihren toten Sohn.

„Er wollte nur einfach über sich selbst bestimmen.“

Als sie ihn aus der Kaderschmiede, der Eliteschule des DDR-Sports, aus der Sportschule in Berlin-Hohenschönhausen nimmt, tut sie das, damit niemand ihrem Sohn das Rückgrat breche. Die Leistungsschau im Staatsauftrag, der tägliche Drill der Kindersportler, all die erzwungenen politischen Willensbekundungen im Reich der Dynamos – es machte ihr Angst und erregt den Widerwillen.

Der Junge dagegen macht sich große Hoffnungen auf eine Karriere als Turner. In der dritten Klasse haben ihn die Talentefahnder entdeckt, sein turnerisches Talent erkannt und ihn auf die Kinder- und Jugendsportschule der Sportvereinigung Dynamo geholt. Die SV Dynamo ist die Sportvereinigung von Polizei und Staatssicherheit der DDR. Der Minister für Staatssicherheit, Erick Mielke, ist Vorsitzender der Sportvereinigung.

Chris interessiert das wenig. Er möchte Turner werden, Schauspieler oder Pilot. Er ist begabt in Vielem. Als die Genossen an ihn herantreten und dem Schüler eine Laufbahn als Offizier der Luftwaffe vorschlagen, beginnt sich der Junge bedrängt und eingeengt zu fühlen. Die reglementierten Alltagsabläufe im militärisch organisierten Jugendsportlerleben haben ihn bereits zu dem Entschluss gebracht, den Antrag der Werber, eine Offizierslaufbahn bei der Nationalen Volksarmee einzuschlagen, abzulehnen.

Der Staat sieht in der Entscheidung des Jungen einen Affront. Die Aufnahme zur Erweiterten Oberschule und der Weg zum Abitur wird Chris verweigert. „Werd‘ ich eben Kellner“, sagt er sich. Und außerdem will er so unheimlich gerne mal nach Amerika. Einmal fragt er die Mutter: „Kannst du mir eigentlich sagen, warum wir noch hier sind?"“ Ihre Antwort: „Man kann irgendwann nicht mehr neu anfangen.“ Chris frustriert das alles:

„Ein kleines Bankkonto, eine Wohnung, ein Job, das kann doch nicht alles gewesen sein.“

Aber seine überdurchschnittlich guten Schulleistungen ermöglichen ihm eine der damals sehr begehrten Lehrstellen als Kellner im Flughafen-Restaurant Schönefeld bei Berlin zu erhalten. Als Kellner hat er in der DDR ein überdurchschnittlich gutes Einkommen und im Alltag einen gewissen Freiraum. Die Schattenseiten seines Berufes in der DDR lernt er bald kennen und berichtet seiner Mutter, wie ihn die Korruption in der Gastronomie anwidere.

Auf der Gastronomieschule hat Chris seinen Freund Christian kennengelernt. Beide haben ähnliche Erfahrungen im sozialistischen Alltag der DDR gemacht, empfinden sich als eingesperrt in dem Land, das seine Bürger nicht in alle Welt reisen lassen will und so vieles und beinahe alles im Leben vorzuschreiben versucht. Und das Wissen, dass es immer so sein werde, sie vielleicht nie selbst entscheiden können, wo und wie sie leben, empfinden die 20-Jährigen zunehmend als unerträglich.

Als Chris Gueffroy Anfang 1989 erfährt, dass er im kommenden Mai zum Wehrdienst bei der Nationalen Volksarmee eingezogen werden soll, entschließt er sich, gemeinsam mit Christian über die Grenze der DDR zu fliehen.


Ausgang

Eigentlich ist Karin Gueffroy am Morgen mit Chris zum Frühstück verabredet. Ein Freund ihres Sohnes klingelt an der Wohnungstür, fragt, ob sie die Schüsse gehört habe und sagt, Chris und Christian hätten „es“ versuchen wollen. „Ich war überzeugt, dass mein Sohn am Leben ist“, sagt die Mutter. „Festgenommen vielleicht, aber niemals tot. Wir dachten: Wenn die ihn erschossen hätten, wäre die Stasi doch längst hier. So böse konnte doch der Staat nicht sein, dass er einen über den Tod des eigenen Kindes im Unklaren lässt.“

Doch die Stasi kommt – in Gestalt eines Herrn mit falschem Namen. Der nimmt Karin Gueffroy mit „zur Klärung eines Sachverhalts“. Offiziere des Ministeriums für Staatssicherheit vernehmen sie. Lange zwei Stunden. Fragen sie aus über Chris, seine Freunde und Bekannten, über sie selbst. Den Charakter ihres Sohnes soll sie beschreiben. Sie sagt: „Er ist oft wie ein kleines, wildes Pferd, das sich nicht einfangen lässt.“

Ein Mann in Uniform kommt hinzu. Er teilt ihr mit, dass ihr Sohn tot ist. Er sagt: „Ihr Sohn hat ein Attentat auf eine militärische Einrichtung unternommen und ist dabei ums Leben gekommen.“


Nachklang

Christian wird in der Nacht zum 6. Februar 1989 durch Schüsse verletzt, von den Grenzsoldaten festgenommen und im Mai 1989 wegen „versuchten ungesetzlichen Grenzübertritts im schweren Fall“ zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Bevor die Strafe abgelaufen ist, ist der Staat, die DDR, verschwunden.

Drei Jahre nach den Todesschüssen, die das Leben von Chris Gueffroy beendeten, fällt am 20. Januar 1992 das Landgericht der nun wiedervereinigten Stadt Berlin sein Urteil: Der ehemalige Grenzsoldat der DDR und Todesschütze wird wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Das Gericht stellt fest, dass die Tat „ein besonderes Maß an Gefühlskälte und Verwerflichkeit erkennen“ lasse.

Der Bundesgerichtshof hebt das Urteil gegen den Todesschützen am 14. März 1994 auf, da dieser „in gewisser Weise auch Opfer des Grenzregimes gewesen“ sei.


Ich habe meine Freiheit, aber ich hab' nicht viel Zeit.
Vertrauen wurde gebrochen, Tränen muss man weinen.
Lass uns noch etwas leben, sterben werden wir danach.

MICK JAGGER, KEITH RICHARD


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