Ein Drache mit Bierbauch

Teil II – Biografische Anmerkung zu Wilhelm Bölsche in Friedrichshagen
Wo immer Bölsche eine Landschaft betrachtete, dachte er in erdgeschichtlichen Dimensionen. Am Müggelsee, wo vor rund 18.000 Jahren das Berliner Urstromtal durch das Abfließen des Schmelzwassers des Inlandeises entstand, war das nicht anders. Er hielt es in seinen Texten fest. Dabei berichtete er „Von Drachen und Zauberküsten. Abenteuer aus dem Kampf mit dem Unbekannten in der Natur“, 1925, und in seinem populärwissenschaftlichen Buch „Das Leben der Urwelt: Aus den Tagen der großen Saurier“ schriebt er über den persönlichen Gewinn, den er erhält, wenn er sich vergangene Naturzustände vor Augen führt

Die Phantasie führte Bölsche „in fremde Zonen und Meere, zu geheimnisvollen Wäldern und seltsamster Tierwelt, kaum dass wir unsere engste Heimat dafür zu verlassen brauchen - nur mit etwas Zeitvertauschung und etwas Zauberstab der Phantasie, der viele kleine graue Tatsachen der Forschung wieder zu wirklichem Licht, zu Farbe und Gestalt zu beleben weiß.“


Eiszeit, Klimawandel – und das „kürzliche“ Auftauchen des Menschen

Wilhelm Bölsche sah die Natur nicht als einen augenblicklichen Zustand an. Vielmehr erkannte er ihren erdgeschichtlichen Entwicklungsgang, in dem das „kürzliche“ Auftauchen des Menschen eine unter vielen irdischen Ankünften ist. Lesenswert und bis in unsere Tage voll inspirierender Gedanken ist sein Buch von „Eiszeit und Klimawechsel“.

Doch Bölsche war kein Naturwissenschaftler. Er war ein vielseitig interessierter Beobachter. Neben seinen naturwissenschaftlich die Welt beschreibenden Schriften, war Bölsche auch der Herausgeber literarischer Texte. Er publizierte Schriften von Heinrich Heine und Wilhelm Hauff; es erscheinen in seiner Verlegerschaft die Beiträge des Frühromantikers Georg Philipp Friedrich Freiherr von Hardenberg, von Novalis.

Und dem amerikanischen Reisebuch von Alexander von Humboldt „Ansichten der Natur“ schrieb er ein flammendes Vorwort, worin Bölsche attestiert, es sei „der scharf erfassende Naturforscher“ zu Wort gekommen, denn „neben ihm sprach bestimmend der ästhetisch sich hingebende Empfindungsmensch… das Beruhigende, Befreiende, Läuternde, das die Natur ihm geboten, sollte kraft der Sprache, der Naturmalerei in Worten, mit voller physischer Wirkung zum Ausdruck gelangen.“

Neben der Natur aber übte die Großstadt der Moderne eine Faszination aus auf Künstler und Philosophen oder – wie Bölsche es formulierte – war vor allem Berlin, die „aufregendste“ Metropole des beginnenden 20. Jahrhunderts, eine

„ungeheuere Retorte, wo die Giganten-Chemie eines neuen Weltalters ihre Experimente macht“.

In Vorträgen zur literarischen und kulturellen Arbeiterbildung sprach Bölsche über die Möglichkeiten zur Veränderung der gesellschaftlichen Situation.

Er fand in Berlin zahlreich Gesinnungsfreunde, mit denen er „die soziale Frage“ studierte. Doch dann bemächtigte sich ihrer ein „Gefühl des Sinkens, bei dem die eigentliche Persönlichkeit bald ganz in rohen Massengefühlen zerschwand“. Es waren Kritiker von Industrialisierung, Materialismus und Verstädterung, auf der Suche nach einem Naturzustand; Großstadtflüchtlinge.


…und immer ein Fontane

Theodor Fontane als wohlgestimmter märkischer Wanderer hatte einst vom Müggelsee geschwärmt: „Die Spree, sobald sie sich angesichts der Müggelberge befindet, bildet … ein weites Wasserbecken: … den Müggelsee, der mit zu den größten und schönsten unter den märkischen Seen zählt.“ Und des Abends verlor sich der Poet in seinen Träumen:

„die Sonne sinkt und das Bild … gewinnt mehr und mehr Gewalt über uns und spinnt uns in den alten Müggelzauber ein.“

Das fiel auf, das zog zur Nachahmung an. Und so zog der Naturforscher und Schriftsteller Wilhelm Bölsche 1890 von Friedrichshain nach Friedrichshagen, nach dem damals östlich von Berlin gelegenen Vorort der Metropole „hinter die Weltstadt“: „Da wir doch trotz allem im Herzen ja naturbedürftige Poeten waren“, seien sie „aufs Land“ gezogen. „Das naturlose Großstadt-Leben wurde mir zur Folter“, schrieb Bölsche, „und ich flüchtete“. Und er berichtet von seinem nun alltäglichen Gang zum Müggelsee: „Unerschöpflicher Reichtum an intimen Wirkungen in dieser märkischen Landschaft.“

Mit Bölsche zog auch sein Freund Bruno Wille nach Friedrichshagen. Ihnen folgten Wilhelm Spohr und Julius Hart und siedelten sich in dem kleinen Örtchen an – zur Inspiration und zum Wohlleben. Weitere Freude kamen, berühmte Männer und Frauen unter ihnen: Christian Morgenstern und Erich Mühsam, August Strindberg, Frank Wedekind, das schwedische Schriftstellerehepaar Ola Hansson und Laura Marholm, die Maler Walter Leistikow und Fidus und ebenso der Weltverbesserer Rudolf Steiner.

Auch die Journalisten Heinrich und Julius Hart fanden in Friedrichshagen ihr Quartier. Man streifte durch die Wälder und flanierte auf dem Boulevard, der Friedrichshagener Friedrichstraße – den Bürgern zum Schreck. Man traf sich mit Gerhart Hauptmann, der Quartier und Wohnung in Erkner genommen hatte, trank, redete, dachte nach – philosophierte dabei noch mehr. Und als Poeten mit „lebensreformerischen Zielen bei bohemhafter Lebensführung“ gingen sie in die literarische Weltgeschichte ein als der „Friedrichshagener Dichterkreis“.


Belegte Stulle und Lagerbier

Ein altes Foto aus dem Jahre 1908 zeigt Wilhelm Bölsche in Pose der Genussfreude: stattlich gewölbt der Bauch, verschwitzt lächelnd das runde Gesicht, überbordende Barttracht; der Blick vergeistigt mit bierlauniger Phantasie. Er und sein Habitus wirken wie der eines Mannes, der immer dabei ist, etwas zu suchen – und was er sucht, auch zu finden, um das Gefundene anschließend tiefgründig zu evaluieren.

Bölsches Wohnung in Friedrichshagen wurde zum zentralen Treffpunkt des literarischen Kreises. Und wenn es hieß

„Wir gehen zu Bölsches!“

dann herrschte „bei belegten Stullen und Lagerbier immer eine gehobene Stimmung“, glaubt man dem Schriftsteller Max Halbe. „Auferstehung! Wir leben in einer Zeit der Auferstehung! Die tote Scholle bricht und gebärt Lebendiges. Überall Zeichen … Überall der unbewusste, unbeirrbare Prophetengeist, der vor dem Messias geht“, jubelten die Neukolonisten.

In Friedrichshagen verfasste Bölsche seinen 1891 veröffentlichten zweibändigen Roman „Die Mittagsgöttin“, in dem er die Großstadt Berlin und die Natur des Spreewalds kontrastreich beschrieb. Am bekanntesten wurde sein dreibändiges „Liebesleben in der Natur“, das zwischen 1898 und 1902 erschien und von dem bis zu seinem Tod über 90 Auflagen gedruckt wurden. Dieses Buch begründet Bölsches Ruf als „erster deutscher Sachbuchautor“. 1901 legte Bölsche dem Publikum dem Publikum die „Friedrichshagener Gedanken zur ästhetischen Kultur“ vor. Bölsche vertrat auch darin einen Evolutionismus, der sich mehr und mehr von einer materialistischen Auffassung entfernte.

Im Jahre 1918 verließ Bölsche mit seiner zweiten Frau Friedrichshagen und siedelte nach Oberschreiberhau im Riesengebirge über, wo er am 31. August 1939, also am letzten Friedenstag, starb.



Was ist die Natur?
von Wilhelm Bölsche

mit einer Einführung von Dr. Gerd-Hermann Susen und einer biografischen Anmerkung von Marcel Piethe

„Niemand wider die Natur, keiner über die Natur, denn die Natur! Ist nicht dieser Mensch, der mit seiner Wissenschaft und Technik am tiefsten in das Herz der Natur wie ein Beutejäger einzudringen scheint, der mit seiner Technik diese Natur endlich zu unterjochen scheint, dass sie ihm wie ein gebändigter Riese dienen muss – ist dieser Mensch contra Naturam nicht eben die gewaltigste, die tiefste Äußerung und Betätigung dieser Natura ipsa, die uns gegeben ist?“

In dieser literarischen Wiederentdeckung aus dem Jahre 1906 ergründet Wilhelm Bölsche die Wechselbeziehung zwischen Mensch, Natur und Kultur. Mehr denn je stellt sich heute die Frage, ob wir uns der Natur fügen werden und im „Ewigkeitsprozess des sieghaft Harmonischen“ bestehen bleiben.

Den ersten Teil der Serie „Biografische Anmerkung zu Wilhelm Bölsche in Friedrichshagen“ gibt es hier.


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