Seit nunmehr sechs Jahrzehnten erfindet er Filmfiguren. Und ohne ihn wäre die mittlerweile legendäre DEFA eine andere geworden, ohne die Filme „Berlin Ecke Schönhauser“, ohne „Ich war Neunzehn“, ohne „Der nackte Mann auf dem Sportplatz“ und ohne „Der Aufenthalt“. Der Beobachter, der Menschenforscher Wolfgang Kohlhaase war es, der diesen und vielen anderen Geschichten mehr ihr cineastisches Leben einhauchte. Angefangen hat alles in Köpenick und den Köpenicker Kinos, genauer gesagt in Adlershof, rings um die Dörpfeldstraße. Sonntags, wenn seine Mutter ihm 40 Pfennige geben konnte, stürmte er vor die Leinwände der Lichtspielhäuser.
Dort sah er, wie Geschichten der Phantasie und des wirklichen Lebens erzählt werden konnten. Die Geschichten, die ihn interessierten, begann er aufzuschreiben. Und davon gab es reichlich. Denn dieZeiten des Umbruchs, des Nachkriegs, waren turbulent, waren wild. 1947, da war er knapp 16 Jahre alt, textete der junge Kohlhaase als Volontär und wenig später als Redakteur für die Jugendzeitung „Start“, bevor er Mitarbeiter der FDJ-Zeitung „Junge Welt“ wurde.
Dann verpflichtet ihn, den Autodidakten, der nie eine Universität oder Schreibschule besucht hat, die DEFA – als Dramaturgie-Assistenten. „Wenn Du zwanzig bist, fängst Du eben an“, sagt er heute. Der Anfang „war einfach bunt, abenteuerlich, schwer zu verstehen – das Leben von hinten betrachtet ist übersichtlich“, weiß er heute. 1953 lieferte Kohlhaase sein erstes Drehbuch „Die Störenfriede“ ab.
Was man heute einen Shootingstar nennt, wurde er im Jahr darauf, als sein erster Berlin-Film „Alarm im Zirkus“ zum Kassenschlager geriet und ganze 3,6 Millionen Besucher in die Kinos zog. Den Nationalpreis der DDR hat er für sein Filmbuch erhalten.
„Ganz unabhängig vom Schreiben interessiert mich, warum Leute so sind wie sie sind“
sagt er über seine Arbeit. „Ich gehe gerne um jemand herum und versuche dahinter zu kommen, warum ist der so wie er ist.“ Wer seine Film sieht, ahnt um die feinsinnige Beobachtungsgabe Kohlhaases. Diese meinte er in den Dienst einer guten Sache zu setzen, für ein Land, in dem eine neue Gesellschaft gebaut werden sollte, als er Mitglied der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands wird. „Ich war hier mit mir selbst verabredet, mit Orten und Menschen, mit Eltern und Freunden, mit Kindheit und der Idee von einer Gesellschaft, in der das Geld nicht alle Dinge regelt.“
Doch musste er bald erkennen, wie fern voneinander Anspruch und Realität in der DDR waren. Als das SED-Zentralkomitee nach dem 11. Plenum 1965 zehn Defa-Filme verbot, war Kohlhaases „Berlin um die Ecke“ darunter. Pessimimus und Subjektivismus wurde seinem Buch vorgeworfen. Wohl nicht ganz zu Unrecht; jedoch: „Wer genau hinsieht, bringt nicht nur frohe Kunde“, schrieb er später den Kulturfunktionären ins Stammbuch.
Das Schreiben an sich und in seiner Vielfalt war Wolfgang Kohlhaase die Möglichkeit, seine Welt von einem poetischen Standpunkt zu betrachten. Zwei Bücher mit Erzählungen, der „Nagel zum Sarg“ und das „Silvester mit Balzac und andere Erzählungen“ erscheinen in den 70er Jahren. Zuvor hatte Kohlhaase bereits den „Goethepreis“, vergeben für besonderen Leistungen auf dem Gebiet der Kunst und Wissenschaft, in Ost-Berlin für seine Texte erhalten.
„Ich schlafe mit jemandem, wenn es mir Spaß macht. Ich nenne einen Eckenpinkler einen Eckenpinkler. Ich bin die, die bei den Tornados rausgeflogen ist. Ich heiße Sunny.“
Sätze, die deutsche Filmgeschichte geschrieben haben. „Solo Sunny“ wurde zu einem grandiosen Filmereignis, weil der Film das Gefühl einer Generation in so einfache wie lebensnahe Worte und starke, einprägsame Bilder fügte. Die Co-Regie zu dem Film an der Seite eines der besten Defa-Regisseure, Konrad Wolf, war die erste Regiearbeit des bekannten Drehbuchautors.
Ging es 1968 Autor und Regisseur in „Ich war Neunzehn“ noch um die politische Haltung, so wandten sie sich nun den Rändern der Gesellschaft zu und hoben zwischen Bedrückung und Humor „zu einem Requiem auf eine Schauspielergeneration in der DDR, die an der sozialistischen Wirklichkeit verzweifelte“ an. Mit Hilfe einer Journalistin spürte Kohlhaase für seine Vorarbeiten die Nachtclubsängerin Sanije Torka auf, deren Leben zum Vorbild für die Ingrid Sommer, für „Sunny“ werden sollte. Im In- und Ausland wurde der Film mehrfach ausgezeichnet. Neben anderen Preisen erhielt „Solo Sunny“ bei der Berlinale 1980 den Filmkritikerpreis und Renate Krößner für die Titelrolle einen Silbernen Bären als beste Darstellerin. Später entstand eine Schauspielfassung für die Bühne und im Februar 2008 wurde am Theater Plauen-Zwickau das Tanzmusical „Solo Sunny“ aufgeführt.
Als die DDR sich ihrem Ende näherte, machte die DEFA noch einmal großes Kino und fuhr deutsch-deutsche Starbesetzung auf, als Götz George, Rolf Hoppe und Otto Sander „Der Bruch“ gelingen sollte, eine turbulente Kriminalkomödie, die Kritiker und Publikum gleichermaßen zu begeistern wusste und Wolfgang Kohlhaase den Ernst-Lubitsch-Preis des Clubs der Filmjournalisten 1990 einbrachte.
Unterschiedlich waren die Gründe, dass es manchen guten Schauspielern, Dramaturgen, Regisseuren und Drehbuchautoren der DEFA nicht gelang, die Abwicklung ihres Landes und ihrer arbeitgebenen Filmgesellschaft schadlos zu überstehen. Kohlhaase fand seinen Platz in der Zeit und immer wieder Regisseure, die an seinen Drehbüchern reges Interesse hatten, ob Volker Schlöndorff für seinen Film „Die Stille nach dem Schuss“ oder Philipp Stölzl für „Baby“, ob Frank Beyer oder Heiner Carow. Die Gründe, warum dies ausgerechnet Wolfgang Kohlhaase gelang, liegen bei ihm selbst.
Seit jeher interessiert ihn, was die Menschen um ihn interessiert. Pathos und Sentimentalität sind seinen Drehbüchern fremd. „Er beschreibt komplizierte Dinge mit einfachen Worten“, sagte Andreas Dreesen über Kohlhaase. Dreißig Lebensjahre trennen die beiden voneinander und doch fanden sie eine gemeinsame künstlerische, sehr junge Sprache – und landeten prompt einen enormen Kinoerfolg. „Sommer vor dem Balkon“ ist 2005 eine Sozialkomödie, „die begeistert, anrührt und die Zuschauer geradezu beglückt“, wie es in einer Kritik hieß – und so erlebten es wohl auch die über eine Million Kinobesucher des Films.
Als der in den Kinos läuft, ist Wolfgang Kohlhaase bereits ein Mittsiebziger, in einem Alter, wo andere im Ruhestand vergangenen Zeiten nachsinnieren. Das tut Kohlhaase nicht. Er verbringt mit seiner Ehefrau Emöke Pöstenyi, einst eine der bekanntesten Tänzerinnen der DDR, viel Zeit in seinem Haus im Landkreis Oder-Spree, wo die Landschaft weit ist und die Familienkatzen über eine große Wiese streifen. Und darin mag vielleicht das Geheimnis seiner Kunst liegen, wovon er, wenn er über sich spricht, sagt: „Das Merkwürdige ist: Das ICH altert nich. Man merkt schon, dass man älter wird, aber wahrscheinlich – die Augen bleiben jung, mit denen man in die Welt guckt.“