Am Ufer des Müggelsees hatten sich um die Jahrhundertwende naturbegeisterte und industriezeitaltermüde Dichter und andere Künstler zusammengefunden, wurden zum Friedrichshagener Dichterkreis. Das anarchistische Völkchen diskutierte leidenschaftlich über Literatur, Politik und Gesellschaft, streifte dabei durch die Wälder, besoff sich zuweilen gerne bis zur Besinnungslosigkeit oder lebte Askese, verfasste sozialkritische Schriften und sinnsuchende Poesie. Der Dramatiker Gerhart Hauptmann zog ihnen voran, der schwedischen Bühnenautor August Strindberg war mit dabei und der norwegischen Maler Edvard Munch auch, die Brüder Hart und Wilhelm Bölsche, Peter Hille, Frank Wedekind und der Maler Fidus – alle kamen sie in diesen Jahren an den Müggelsee, lebten und arbeiteten hier.
Als Sohn des Apothekers Siegfried Seligmann und seiner Frau Rosalie wird Erich Mühsam am 6. April 1878 in Berlin geboren. Die Familie zieht im darauffolgenden Jahr in die Hansestadt Lübeck. Dort wird Erich im Alter von neun Jahren in die Sexta des humanistisches Gymnasium Katharineums zu Lübeck aufgenommen. 1896 veröffentlicht der Schüler im „Lübecker Volksboten“ eine Glosse über den Direktor seines Gymnasiums – und wird daraufhin wegen „sozialistischer Umtriebe“ der Schule verwiesen.
Man schickt ihn nach Mecklenburg, nach Parchim, und dort beendet er die Schule mit der Untersekunda. Der Vater drängt Erich in eine Lehre als Apotheker. Ihn selbst drängt es jedoch hinaus aus der Welt der Philister und Kleinbürger. Denn Erich Mühsam möchte leben, und was er erlebt, möchte er schreiben. Tierfabeln hatte er bereits als Elfjähriger verfasst. Erste Gedichte folgten. Und für die Clowns im Zirkus, der in der Stadt gastiert, schrieb der Junge kleine satirische Texte.
Lieber armer Teufel als Apotheker
Mühsam bricht die Apothekerlehre ab, geht 1901 nach Berlin, lebt in der Nähe des Kurfürstendamms und schlägt sich als Schriftsteller und Kabarettist durch den Alltag. Er verkehrt im „Café Größenwahn“, wie die Berliner das Café des Westens gerne nennen, und schließt sich der anarchistisch-kommunistischen Kommune „Neue Gemeinschaft“ um Gustav Landauer an. Als Publizist und Redakteur bei anarchistischen Wochenschriften wie „Der arme Teufel“ kämpft Mühsam gegen bürgerliche Normen und staatliche Zwänge, träumt vom Aufstand des Proletariats.
Den Marxismus lehnt er dabei jedoch ab. Mit Johannes Nohl, der wie Mühsam auch als Schriftsteller und Anarchist lebt, teilt er sich ein Zimmer, lebt mit ihm in einer Partnerschaft. Im Singer Verlag erscheint 1903 sein Aufsatz „Die Homosexualität. Ein Beitrag zur Sittengeschichte unserer Zeit“. Mühsam steht nun unter regelmäßiger polizeilicher Kontrolle.
Im Frühjahr 1904 vagabundieren Mühsam und sein Freund durch Italien. Ein Bekannter und Gesinnungsgenosse aus Friedrichshagener Tagen, der Arzt und ehemalige sozialdemokratische Stadtverordnete Raphael Friedeberg, lockt sie auf den Monte Verità . Oberhalb des Schweizer Fischerorts Ascona am Lago Maggiore hatten wenige Jahre zuvor ein paar Freaks, halbnackt und langhaarig herumstolzierende Männer und Frauen, eine Siedlung gegründet. Die Künstlerbrüder Carl und „Gusto“ Gräser hausen in jenen Tagen auf dem Monte Verità in „vegetabilischer Cooperative“.
Hier werden spleenige Erlösungsideen gehegt, und man lebt von Rohkost. Über die Bewohner der Landkommune spottet Mühsam in einem Gedicht:
„Wir hassen das Fleisch, ja wir hassen das Fleisch, und die Milch und die Eier und lieben keusch.“
Man meinte, „unter Urwaldmenschen zu sein“, wie der Bildhauer Max Kruse es festhielt, dessen Frau Käthe auf dem Monte Verità die ersten ihrer weltberühmten Puppen fertigte.
Revolution ist der Plan
Wieder in die Niederungen der Welt hinabgestiegen, lebt Mühsam nun in München und führt er ein zügelloses Leben, begleitet von ständigen Geldsorgen. Er ist fasziniert vom freien Leben der Schwabinger Bohème, freundet sich mit Heinrich Mann an, mit Frank Wedekind und Lion Feuchtwanger. Er arbeitet im Kabarett „Elf Scharfrichter“, verfasst Beiträge für Zeitschriften wie den „Simplicissimus“. Dichtung und soziales Engagement, Bohème und anarchistische Weltanschauung gehörten für Mühsam zusammen. In München ist er Mitbegründer vom „Sozialistischen Bund“ und engagiert sich in den Gruppen die „Tat“ und der „Anarchist“, gründet 1911 die „Kain. Zeitschrift für Menschlichkeit“. Die sozialen Widersprüche sind Ziel seines literarischen Spotts. Sozialer Ungerechtigkeit will er entgegentreten, Revolution ist der Plan, denn: „Sich fügen heißt lügen“, weiß Mühsam.
Doch dann werden die Zeiten rauer für Mühsam und das Land. Ein Krieg zieht auf. Der Erste Weltkrieg wird Not und Elend in die deutschen Großstädte bringen das Universum des alten Europas auslöschen. Als er 1914 beginnt, nimmt Mühsam Kontakte zu Pazifisten und linken Sozialdemokraten auf, um einen Aktionsbund gegen das Massenschlachten zu gründen. 1916 ist Mühsam als Redner aktiv bei Hunger- und Protestdemonstrationen in München. Er propagiert die revolutionäre Beendigung des Krieges, nähert sich politisch den kommunistischen Spartakus-Gruppen an.
Am 7. November 1918 bricht in München die Revolution aus. Mühsam ist dabei und kämpft im „Revolutionären Arbeiterrat“ um die Durchsetzung des sozialistischen Rätesystems, gründet selbst die „Vereinigung Revolutionärer Internationalisten“ zur Radikalisierung der Rätebewegung. Die Revolution unterliegt – und Erich Mühsam wird im Juli 1919 zu 15 Jahren Festungshaft verurteilt.
Im Dezember 1924 auf Bewährung aus der Haft entlassen, nimmt Mühsam seinen Wohnsitz nun wieder in Berlin. Die Haft hat weder seinen revolutionären Willen und noch viel weniger seinen anarchistischen Geist gebrochen. In der Hauptstadt der jungen Weimarer Republik setzt er seinen ganz persönlichen Kampf fort. Die Föderation kommunistischer Anarchisten Deutschlands (FKAD) schmeißt ihn aus ihren Reihen, weil Mühsam sich einer Zusammenarbeit mit der KPD offen zeigt. Doch bald darauf ist er Wortführer der „Anarchistischen Vereinigung Berlin“ und veröffentlicht: „Revolution. Kampf-, Marsch- und Spottlieder“ im Verlag „Der Freie Arbeiter“. In der Monatszeitschrift „Fanal“ propagiert der Dichter ein revolutionäres Bündnis „links von den Parteien“ – und er warnt vor dem Herannahen des deutschen Faschismus.
Verbrannt und zerprügelt
1927 ist Mühsam Mitglied im künstlerischen Beirat der Piscator-Bühne. Lebensreform als soziales Engagement bleibt für ihn unausgesetzt Lebensthema. In die Hufeisensiedlung nach Berlin-Britz zieht er. Hier entsteht seit 1925 ein Manifest des sozialen Wohnungsbaus. Als das Jahr 1933 anbricht, veröffentlicht Mühsam seine programmatische Schrift „Die Befreiung der Gesellschaft vom Staat – Was ist kommunistischer Anarchismus?“. Es wird seine letzte Veröffentlichung zu Lebzeiten.
Im Mai 1933 landen seine Werke in den Flammen der Bücherverbrennung. Doch vorher schon, in der Nacht vom 27. auf den 28. Februar, der Nacht des Reichstagsbrandes, wird er durch die neuen Machthaber verhaftet. Man bringt ihn zunächst ins Gefängnis Lehrter Straße, dann ins Konzentrationslager Sonnenburg. Von dort führt sein Leidensweg über das Gefängnis Plötzensee ins KZ Oranienburg, wo ihn am 10. Juli 1934 Angehörige der SS-Wachmannschaft zu Tode prügeln und seine Leiche aufhängen. Die nationalsozialistische Presse meldet: „Der Jude Erich Mühsam hat sich in der Schutzhaft erhängt“. - -
Nachsatz: Übellaunig kann die Geschichte mit Menschenschicksalen hantieren: Im September 1915 hatte Mühsam die Bauerntochter Kreszentia Elfinger, genannt Zenzl, geheiratet. „Diese Frau hat mir der Himmel geschickt“, schrieb er über Zenzl.
„Sie ist mir das, was ich von meiner Geliebten am tiefsten ersehne: Ersatz der Mutter.“
Als Witwe flüchtet Kreszentia Mühsam 1934 in die Sowjetunion. Im Gepäck hat sie den literarischen Nachlass ihres Mannes, den sie dem Maxim-Gorki-Institut für internationale Literatur übergeben möchte. Noch vor seinem Tod hatte Mühsam seine Frau jedoch vor einer Flucht in das Sowjetreich Stalins eindringlich gewarnt. Und wie sich nun zeigen sollte: zu Recht! Wenige Monate nach ihrer Ankunft in Moskau wird Zenzl Mühsam von der sowjetischen Geheimpolizei verhaftet. Allein Dank internationaler Proteste kommt sie Monate später frei, nur um 1938 erneut verhaftet zu werden. Ganze lange 18 Jahre verbringt sie von da an im Gulag, und sie wird erst 1955 freigelassen.
In die DDR, den neugegründeten sozialistischen Staat auf deutschem Boden – oder besser den Teil, in dem die sowjetischen Besatzer nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges das Sagen haben – geht die Witwe Erich Mühsams. Dort versucht sie vergeblich, das Gesamtwerk ihres Mannes zu veröffentlichen. Der Staatspartei sind die Texte des Anarchisten Mühsam ebenso suspekt wie allen zuvor Regierenden in Berlin. Und so bleibt es anderen Tagen vorbehalten, den Lyriker und Freigeist, den Sonderling und Erotomanen, das literarische Talent und eine der verwegensten Persönlichkeiten der deutschen Literatur wieder zu entdecken.