Schöneweide 89

Maulbeermann, der heute selber aussieht wie Ernst Thälmann, fragte mich nach einem Text zum Thema Wende und Köpenick. Wie fühlte sich das für mich an, damals, vor zwanzig Jahren? „Dieser Sommer liegt im Sterben, wie auch der vom letzten Jahr, kalte Nebel fallen vom Himmel, zaubern Eisblumen ins Haar“ singt Tamara Danz auf ihrer Februar-Platte. Mein Bruder hat sie mir geschenkt, mein Bruder, der nachts manchmal unangekündigt vor der Tür steht, weil er einfach auch mal raus muß aus Torgelow-Spechtberg, aus diesem Waldmeer - Sandmeer - gar nichts mehr, und sich dann heimlich in den Skoda von der Oma setzt und bei Ausgang ab nach Haus, nach Schöneweide, braust, um dann früh um vier in Panik zu verfallen, weil das alte Auto nicht immer gleich anspringt. „Soja Kosmodemjanskaja“ stand auf dem Eisentor zu seiner Einheit. Eine 18-jährige Partisanin, die einen Pferdestall angezündet hatte 1941, mit deutschen Pferden darin. „Warum guckt ihr so traurig, Genossen?“ soll sie gerufen haben bei ihrer Hinrichtung. Es ist Herbst. Herbst 89. Ich bin zu alt um noch Kastanien und Eicheln zu sammeln für die Tiere im Tierpark. Ich mag auch nicht mehr auf dem Schulhof die per Hand abfotografierten Pornobildchen tauschen, mit den lustigen unrasierten Frauen drauf aus den Siebzigern. Ich bin jetzt 14 und komme grad aus Lenz zurück, dem Zeltlager der Berliner FDJ. Dort haben wir über Reisefreiheit diskutiert und über „Freiheit ist die Freiheit der Andersdenkenden“, das Sputnikverbot und „Die Aufgaben der Jugendverbände“ von Lenin. Der Lagerfunk spielte „Ich weiß nicht, ob das Liebe ist“ von den Ärzten und „Langeweile“ von Pankow. Ich spielte „Heart of Gold“ auf meiner Mundharmonika, die mir mein Westonkel zur Jugendweihe im Intershop Schönefeld gekauft hatte, und durfte dafür bei einem Mädchen aus Pankow übernachten. Und jetzt steh ich also wieder auf dem alten Schulhof in der Firlstraße. Der erste Fahnenappell nach den Sommerferien. Ein orangefarbener Schallplattenspieler mit dreieckigen Boxen wird umständlich aufgebaut und ruft: „Keiner will sterben, das ist doch klar!“ Klar. Lindenberg. Ist doch von gestern. Danach muß ich zur Direktorin, die wie eine westeuropäische Hauptstadt heißt, und bekomme von ihr den Gorbi-Sticker abgenommen, den ich am offenen Blauhemd trage und den ich doch schließlich aus Lenz hatte. Vielleicht werd ich jetzt Punk. Wo geht’s nach Ungarn? Erstmal geh ich in die Wuhlheide. In Gerhart Hauptmanns Ratten hat sich der Mechelke hier verkrochen. Es gibt da diesen Platz auf der Drachenwiese. Das soll früher mal ein richtiger Park gewesen sein, ein Rosengarten, sagt Fräulein Krause, die Leiterin der AG Junge Historiker. Mit ihr haben wir die alten Abrisshäuser fotografiert in der Edisonstraße und später dann alles, was sonst noch am Aussterben war: Kohlefuhrwerke, Invaliden auf Dreirädern, die Betriebsbahn vor dem KWO, die einfach nur „der Bulle“ hieß. Hier auf der Drachenwiese hört man russische Befehle durch die Lautsprecher hallen, gleich hinterm Thälmannstadion. Thälmanns Namen tragen wir, sei seiner würdig Pionier.Wie ist man Thälmann würdig? Die russischen Offiziersfrauen in der Straßenbahn nach Karlshorst sind herrlich bunt geschminkt und riechen nach 4711, wie meine Oma, die immer über die Kommunisten schimpft. Sonntags fahr ich manchmal mit dem grünen Klapprad an der Kaserne lang, Kompott kaufen im Magasin. Das hat auch sonntags auf und die rechnen da noch mit Abakus. Was ich einmal werden will? „Puhdy“ hab ich auf den Berufswunschfragebogen geschrieben, den der Stabü-Lehrer ausgegeben hat. Derselbe Stabü-Lehrer, der uns diesen Sommer auf die Wilhelminenhofstraße schickte, direkt vor das Sporthaus Union, um Passanten zu fragen, wie es um die Meinungsfreiheit bei uns bestellt sei und der dann auf einmal nicht mehr da war. Gab dann wohl eine Fallmeldung, sagte meine Mutter. Was ist denn eine Fallmeldung? Abends dann in der Christuskirche. Die platzt aus allen Nähten. Unterschriftenlisten fürs Neue Forum, Gründungssatzungen und Flugblätter auf Ormig- Papier. Im Gemeindehaus, das ich heute zum ersten Mal betrete, wird noch lange weitergeredet. Hier treffe ich das Fräulein Krause wieder. Eine Illustration wird verteilt, die ich später viele Jahre im Portemonnaie bei mir tragen werde. Sie zeigt einen Mann, der, in einem Käfig stehend, auf dem Arm wiederum einen kleinen Käfig trägt mit einem Vogel darin, dem er die Tür öffnet. Der Mann schaut ernst. Dann muß ich nach Hause. Morgen ist doch wieder Schule.

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