Auf Sand gebaut

Wie Woltersdorf nicht Hollywood wurde
Als die Bilder laufen gelernt hatten, war ihre Mutter stolz: Berlin hatte ein neues Zeitalter zur Welt gebracht. Am 1. November 1895 zeigten die Brüder Max und Emil Skladanowsky zum ersten Mal „lebende Photographien“ im Variethaus Wintergarten. Damals ahnte wohl niemand, dass ihre Idee wenige Jahre später zu einer milliardenschweren Industrie werden sollte. Das wirtschaftliche Potenzial war jedoch schnell erkannt, das künstlerische ebenso.

filmstadtWar das neuartige Vergnügen vorerst dem betuchteren Publikum vorbehalten, so verbreitete sich die Sucht nach der modernen Cinematographie epidemisch um das Jahr 1910. In der Metropole entstanden die ersten Filmspielhäuser, in Ladenbuden tingelte der „Kintopp“ übers Land. In den Jahren nach 1920 gab es bereits 6000 deutsche Kinos, in denen 1927 sagenhafte 337 Millionen Eintrittskarten verkauft wurden – davon allein 44 Millionen in Berlin, wo nunmehr 342 Lichtspielhäuser existierten, in denen rund 150 000 Besucher Platz fanden. Gezeigt wurde, was Spaß brachte: Gangster und Monster, Helden und Herrschaften, halbbekleidete Damen und wilde Raubtiere.

Diese alle vor der Kamera artgerecht einzufangen, baute man Studio an Studio und drehte, was die Rolle hergab. Man möchte es heute kaum mehr glauben: Ein Wettrennen um die fettgefüllten Futterplätze entbrannte dabei ausgerechnet zwischen Kalifornien und – der Mark Brandenburg!

Während im amerikanischen Westen nahe Los Angeles um das Jahr 1910 die ersten Streifen gedreht und 1911 das erste der legendären Studios errichtet wurde, fahndeten die deutschen Filmpioniere fleißig im märkischen Sand nach geeigneten Orten, ihre Phantasiewelten entstehen zu lassen.

In Spandau, Weißensee und Babelsberg suchte und fand man Kulissen. Und auch in Woltersdorf. Zu jener Zeit schlurfte dort das Leben mit nahezu gleichmäßigem Gang seit bereits mehr als 700 Jahren über die märkische Heide. Doch dann lockte anno 1886 ein Aussichtsturm und bald manches gastfreundliche Lokal den miefgeplagten Berliner zum Lungelüften nach JWD. Und damit es auch hier etwas schneller zuginge, zuckelte seit 1913 eine Straßenbahn durch Wald und Flur, vom Rahnsdorfer Bahnhof zum Woltersdorfer Schleusenidyll, immer im Gepäck die Großstädter en masse.

Unter denen war dann eines Tages auch Joseph Mandel. Der Wiener lebte da bereits seit einiger Zeit in Berlin, wo er bei der Continental-Film mit der Herstellung einer Filmserie rund um den Detektiv „Stuart Webbs“ sein gezuckertes Brot verdiente.

Joe, wie er sich nannte, war ein Praktiker und von Entschlusskraft, hatte den Blick fürs Wesentliche. Und so entgingen seinem Produzentenauge nicht die großzügigen Vorteile von Landschaft und Ort. Galt Berlin schon damals als ein teures Pflaster, so waren wenige Kilometer östlich neben der idyllischen, vielgestaltigen Landschaft auch die Komparsen billiger zu haben. Der Entschluss war bald gefasst: Hier wird Filmland gemacht!

Was dann geschah, ist unter Cineasten heute Legende: Joe May kaufte entlang der Ufer des hiesigen Kalksees hektarweise Boden auf. Eine gewaltige Kulissenstadt, knapp 30 Fußballfelder groß, entstand, in der über 50 Filme gedreht wurden. Das war im Jahre 1918 und manch einer in Deutschland hatte zu dieser Zeit andere Sorgen. May aber schaute in die Zukunft.

Und die wurde nunmehr von der „Herrin der Welt“ eingeläutet: Gestenreich, doch noch ohne Worte, rennt die schöne Maud, verfolgt von finsteren Mächten, über alle irdischen Kontinente. Und selbst die Stadt Utopia befand sich nun an der Ortsgrenze zwischen Woltersdorf und Rüdersdorf. Monumentales Filmwerk allenthalben.

Von all der Anstrengung erholten sich die Filmleute im Kurhaus Koch, dem heutigen Woltersdorfer Krankenhaus. Es wurde gefeiert – oft bis der Doktor kam. Erholen tat sich die Leinwandprominenz dann in den mondänen Villen des Ortes.

Währenddessen saß im benachbarten Rüdersdorf der Harry Piel am Nil und wusch seine Glatze mit Persil, wie die Schnauze der Berliner poetisierte. Als Regisseur „Dynamit Harry“ Piel ließ dieser für seine Abenteuerfilme die Autos und Motorräder im Dutzend vom Rüdersdorfer Muschelkalkfelsen rieseln. Sein Kollege, Joe May, bastelte währenddessen gemeinsam mit seinen 2000 Statisten und den 300 Handwerkern am legendären Zweiteiler „Das indische Grabmal“, wofür selbst leibhaftige Tiger (von Eschnapur) durch brandenburgischen Sand stapfen durften.

Die Herrlichkeit der Filmstadt nahm ein jähes Ende, als Joe May und viele andere „Nichtarier“ das Land verlassen und ins amerikanische Exil gingen. Nach 20 Jahren Welttheater wurde es ab 1933 wieder ruhig rund um die Kranichberge und den Flakensee. Und wer heute nach Spuren des beinahe Hollywood gewordenen Filmparadieses sucht, muss mit Detektivaugen durch die Landschaft gehen.

Leichter fündig wird er im Aussichtsturm in den Kranichbergen. Hier verwaltet man einen Teil des Wissens um die glorreiche Historie des Ortes, die eigentlich zur Gegenwart gehört. Denn auch in den vergangenen Jahren wurde wieder gedreht in Rüdersdorf und Woltersdorf. Und wie prophetisch klingt bei dem Gedanken, es könnte noch einmal was werden mit der ganz großen Filmkarriere am Ort, der Ausspruch Kurt Tucholskys: „Das Kino schläft. Laßt mich verweilen bei diesen Sternen, filmomorph. Es schläft in sieben Teilen der Herr der Welt in Woltersdorf.“

 


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