Eigentlich bin ich im Urlaub. Ich weiß nicht wirklich, über was ich heute schreiben soll. Ich brauche ein kleines Wunder oder einen Kuss der Muse.
Während ich seit gestern am anderen Ende der Welt in Australien sitze und nun gerade über diesen Artikel nachsinne, sitzen Sie vielleicht gerade mit ihren Lieben beim Abendbrot. Die Uhr auf meinem Laptop, die noch nicht umgestellt ist, zeigt 19:30 Uhr. Hier ist es gerade 2:30 Uhr nachts und eigentlich sollte meine Familie, ich eingeschlossen, schlafen. Tun wir aber nicht, d.h. bis auf meinen Sohn. Meine Frau und ich wollen, können aber nicht. Zum einen tropft das Kondenswasser der Klimaanlage direkt neben unserem Fenster mit einem impertinenten Geräusch in die Regenrinne, was mich an eine chinesische Wasserfolter erinnert. Zum anderen irren unsere beiden zwei- und vierjährigen Töchter durchs stockfinstere Haus meiner Schwiegereltern. Glockenhellwach. Jetlag nennt man so was. Ich fühle mich gekocht.
Heute steht ein großes Familienmeeting an. Sophia wird zwei. Außerdem Redaktionsschluss, d.h. ich muss diesen Artikel bis heute Abend fertig schreiben und nach Deutschland mailen. Bis vor einer Dreiviertelstunde wälzte ich mich genervt im Bett hin und her oder war beschäftigt, meine durchs Haus mäandernden Töchter einzufangen, bis ich mich schließlich entschloss, die Gunst der Stunde zu nutzen. Wenn ich doch sowieso schon wach bin.
Denn bei Licht betrachtet ist tatsächlich nichts so schlecht, dass es nicht für irgendetwas gut wäre. Und siehe da, während ich so schreibe, formt sich allmählich eine Kolumne in meinem Kopf und auch auf dem Papier. Manchmal entstehen nämlich aus diesen Situationen, von denen wir wünschten, dass sie einfach „anders“ (was für uns meist „besser“ heißt) würden, äußerst brauchbare, ja manchmal sogar kostbare Dinge: Wären damals vor sechs Jahren die Züge in dieser kleinen Stadt in Indien auf Grund eines großen religiösen Festes für drei Wochen im Voraus nicht restlos ausgebucht gewesen, was mich dort festsitzen ließ und mich damals in eine mittlere Krise befördert hat, da ich dadurch meinen Reiseplan sabotiert sah, hätte ich meine (australische) Frau gar nicht kennengelernt. Ergo säße ich jetzt nicht hier und würde diese Zeilen schreiben. Was rede ich, ich wäre wahrscheinlich jemand ganz anderes.
Vielleicht kennen Sie ja ähnliche Ereignisse aus Ihrem eigenen Leben, wo sich vordergründig „unangenehme Überraschungen“ im Nachhinein als Chancen oder sogar als Segnungen erwiesen.
Wenn es uns in solchen Situationen gelingt, unsere Antennen ausgefahren zu lassen, und wenn wir dann noch den Mut haben, auch mal den Sprung ins kalte Wasser zu wagen, kann sich ein vormals in erfrischendes steingrau gehüllter Lebensentwurf am Rande der Depression binnen eines Moments in eine bunte Bonbontüte voller neuer Möglichkeiten verwandeln.
Kennen Sie bspw. diese Situationen in S- oder U-Bahnen, wo sie der Blick eines/einer Unbekannten trifft? Hier besteht immer wieder die Möglichkeit, selbst zu einer Überraschung für andere zu werden. Probieren Sie mal aus, was geschieht, wenn wir unserem Gegenüber ein Lächeln schenken. Seien Sie sicher, er/sie hat es verdient und Sie auch.
In diesem Sinne, Ihr Beant S. Hergo
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