Seuchenschutz und Impfen in der DDR

Teil I – Die Bekämpfung der Tuberkulose
Obwohl die wirtschaftlichen Kräfte der DDR deutlich geringer als die der Bundesrepublik Deutschland waren, konnte die DDR in der Bekämpfung von Tuberkulose, spinaler Kinderlähmung und bei anderen epidemischen Krankheiten zum Teil bessere Ergebnisse erzielen als die Bundesrepublik.

Auf dem Gebiet der Seuchenbekämpfung wies sie früh gute Ergebnisse auf. Dr. med. Heinrich Niemann sieht eine der Ursachen darin, dass die Reaktion auf eine Epidemie in der DDR gesetzlich geregelt und damit im Gegensatz zur Bundesrepublik Deutschland und den meisten anderen Staaten auf der Höhe der Zeit war: „Der Gesundheitsminister der DDR leitete eine ständige Kommission zur Verhütung und Bekämpfung von Epidemien. Bereiche wie Bildung, Handel, Wirtschaft, Polizei gehörten dazu.

Poliklinik „Am Tierpark“ in Berlin. /// Foto: Maulbär-Archiv
Poliklinik „Am Tierpark“ in Berlin. /// Foto: Maulbär-Archiv

Die staatliche Plankommission hatte die Aufgabe, schnellstmöglich zusätzliche Ressourcen zu mobilisieren. In den 15 Bezirken und den Kreisen gab es Kommissionen und Seuchenbekämpfungspläne. Die Einrichtungen des Gesundheitswesens – Universitätskliniken, Kreiskrankenhäuser, Polikliniken, Hygieneinspektionen, Arztpraxen, Kinder- und Pflegeeinrichtungen, aber auch die Betriebe, Schulen, Behörden – wurden von Beginn an einbezogen.

„Jeder Bürger hat das Recht auf Schutz seiner Gesundheit und Arbeitskraft“, lautete der erste Absatz des Artikels 35 der Verfassung der DDR. Zur verfassungsgetragenen Staatsraison gehörte „die Pflege der Volksgesundheit, eine umfassende Sozialpolitik, die Förderung der Körperkultur, des Schul- und Volkssports und die Touristik“.

Die Polikliniken in der DDR konnten mit ihrer Struktur (mehrere Ärzte, eigenes Labor, räumliche Abgrenzung von Infektionsbereichen, Aufstellung von Notbetten, längere Öffnungszeiten) ihre Kräfte relativ schnell auf neue Aufgaben einstellen, ohne dass der einzelne Arzt wirtschaftlich in Gefahr geraten wäre.

Das DDR-Gesundheitswesen war fast ausschließlich öffentliches Eigentum, wurde staatlich organisiert und in der Regel ärztlich geleitet. Der Gesundheitsminister und seine Stellvertreter, die Verantwortlichen in den Bezirken oder in den Kommunen waren fast ausschließlich Ärzte, vielfach erfahren in der Hygiene oder Sozialmedizin und Epidemiologie.“

Als Deutschland 1945 auf die Trümmer des zweiten Weltkrieges sah, darunter das kaputte Gesundheitswesen, gehörte das Ausbrechen von Seuchen in nicht gekanntem Ausmaß zur Lebenssituation der Menschen. In dem Land, in dem in der Tradition Rudolf Virchows und Robert Kochs die Bekämpfung von Infektionskrankheiten schon einen guten Stand erreicht hatte, lag z. B. 1947 in der damaligen Sowjetischen Besatzungszone die Zahl der Tuberkulosetoten mit etwa 32.000 weit über dem Vorkriegsstand.

In Berlin war die Sterblichkeit auf durchschnittlich 233 unter 100.000 Menschen gestiegen. Nur noch etwa 13.000 Ärzte waren im Ostteil Berlins im Dienst; in den westlichen Zonen waren es über 50.000. Im Berliner Krankenhaus im Friedrichshain gab es noch 300 Betten von ursprünglich 1000.

Typhus, Cholera, auch Geschlechtskrankheiten traten gehäuft auf, von den Kinderkrankheiten wie Masern, Scharlach oder Diphtherie und Keuchhusten nicht zu sprechen. Folgerichtig war die Bekämpfung der Seuchen ein Schwerpunkt beim Aufbau eines funktionierenden Gesundheitswesens. Hierbei erwiesen sich die neu entstehenden Strukturen eines staatlichen Gesundheitswesens und seiner zentralen Leitung als vorteilhaft.

Mit deutschen Ärzten vorbereitete Befehle der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD), speziell auch zum Seuchenschutz, schufen die Basis für ein wirksames Vorgehen. Aus der Zentralverwaltung für Gesundheitswesen ging dann mit Gründung der DDR 1949 erstmals auf deutschem Boden ein Ministerium für Gesundheitswesen hervor.

Dass und wie es später in der DDR gelungen ist, in wenigen Jahren die Tuberkulose und auch andere Infektionskrankheiten zurückzudrängen bzw. praktisch auszurotten, verdient nicht nur Hochachtung aus heutiger Sicht, sondern es bringt auch die Frage mit sich, mit welchem Konzept, mit welcher Strategie gearbeitet wurde. Denn die wirtschaftlichen Voraussetzungen und Möglichkeiten waren ja – auch im Vergleich zur Bundesrepublik – besonders in den ersten Nachkriegsjahren sehr ungünstig.


Maßnahmen zur Tuberkulosebekämpfung

Nach dem Krieg war die allgemeine Ernährungssituation in der Bevölkerung schlecht. Entsprechend hoch war die Zahl der Tuberkulose-Fälle, da die Krankheit meist bei schlechten Lebensbedingungen und schwachem Immunsystem auftritt.

 

Der DEFA-Film von 1988 „Einer trage des Anderen Last“ schildert authentisch und berührend die Situation in den Nachkriegsjahren. Vor diesem Hintergrund wurde eine umfassende Strategie entwickelt, die schon am 3. Oktober 1946 im Befehl Nr. 297 der SMAD mündete.

Die „Maßnahmen für die Tuberkulosebekämpfung innerhalb der deutschen Bevölkerung“ enthielten in vier Abschnitten mit mehr als 20 Einzelpunkten Regelungen zur Erkennung der Infizierten und Erkrankten und zu ihrer Isolierung, zur umfassenden Erfassung (Meldepflicht) und wissenschaftliche Auswertung der Zahlen in einem Tuberkulosekataster, zu Hygienemaßnahmen, Kontrolluntersuchungen, Quarantäne, Behandlung in speziellen Kliniken und Lungenheilstätten, zur sozialen Absicherung, Ärztefortbildung, und weiteren Erforschung der Krankheit. Von den Landesregierungen wurden wie in Sachsen 1947 Tuberkuloselandesgesetze verabschiedet.

Bei der Bekämpfung der Tuberkulose knüpfte die DDR an Erfahrungen aus der Weimarer Republik an und stützte sich auf die Programmatik der SPD und KPD sowie nach 1945 der neugegründeten SED, die auch der Tuberkulosebekämpfung galt. Auf dem Gebiet erfahrene Ärzte wie Adolf Tegtmeier, Paul Steinbrück, Herbert Landmann u.a. blieben im Osten und leisteten Pionierarbeit.

Die neuen, wirksamen Medikamente wie Streptomycin oder Penicillin standen anfangs nur begrenzt zur Verfügung, konnten aber schnell z. B. von „Jenapharm“ hergestellt werden. 1949 erkrankten noch 107.000 Menschen neu an Tuberkulose, über 20.000 verstarben daran im gleichen Jahr, darunter 1256 Kinder bis 15 Jahre. 1949/51 wurde die BCG-Schutzimpfung mit Lebendimpfstoff für alle Neugeborenen eingeführt und 1953 zur Pflichtimpfung erklärt. 1955 konnte schon jedes zweite Neugeborene geimpft werden, 1960 waren es fast 97 Prozent; nur noch 26 Kinder starben in diesem Jahr an Tuberkulose.

Während die Impfungen entscheidend für die Neugeborenen und Kinder waren, wirkten sie nicht bei Erwachsenen.

In allen Bezirken und den Kreisen wurde ein flächendeckendes Netz an Beratungs- und Fürsorgestellen, die späteren PALTs (Poliklinische Abteilung für Lungenkrankheiten und Tuberkulose) aufgebaut. 1960 bestanden 395 solcher Einrichtungen. Diese Tuberkulose-Kapazitäten wurden in gesonderten Haushaltskapiteln ausgewiesen. Ein System von Reihenuntersuchung der Bevölkerung auf Tuberkulose, die „VRRU“ (Volksröntgenreihenuntersuchung), mit Schirmbildstellen und mobilen Röntgenzügen sicherte eine praktisch vollständige Nachforschung v.a. von Lungentuberkulose. Noch 1965 wurden dadurch mehr als die Hälfte aller Neuerkrankungen erkannt.

Nach dem Krieg waren die Lungenheilstätten zum großen Teil zerstört, manche wurden jetzt als Lazarette genutzt wie die Beelitzer Heilstätten im Land Brandenburg. 1952 entstand in Berlin-Buch das spätere Forschungsinstitut für Lungenkrankheiten und Tuberkulose (FLT) als zentrales wissenschaftliches und international geschätztes Leitinstitut. In Bad Berka wurde bis 1957 am Ort der bisherigen Lungenheilstätte ein Krankenhaus mit über 1000 Betten gebaut, das mit seiner komplexen Therapie-Konzeption als internationales Referenzzentrum für die damals modernste Tuberkulosebehandlung galt.

Die lange Dauer einer Tuberkulose-Erkrankung brachte für die Betroffenen oft wirtschaftliche und familiäre Probleme mit sich. Soziale Hilfe wurde deshalb neben der medizinischen Seite eine wichtige Aufgabe in der Beratung und Betreuung der Kranken. Die von der Krankenkasse bezahlte Behandlungs- bzw. Kurdauer wurde verlängert, ja ausgedehnt bis zur völligen Ausheilung.

Die Verpflegungssätze lagen über dem Normalsatz der Bevölkerung: Bei der Abschaffung der Lebensmittelkarten 1958 betrug z. B. der Verpflegungssatz pro Tag für TBC-Patienten 3,85-3,95 DM, für kranke Bergarbeiter 3,25-3,35 DM, für alle „übrigen“ Kranken 2,55-2,65 DM. Den gesundeten Patienten wurden Umschulungen und Ausbildungen angeboten, sodass ein Teil von ihnen wieder berufstätig sein konnte.

Das einheitliche Vorgehen und die medizinische und soziale Gesamtsicht erwiesen sich als entscheidende Erfolgsfaktoren. Anfang der 1980er Jahre war die Tuberkulose als Volkskrankheit in der DDR weitgehend besiegt.


Dr. Heinrich Niemann wurde am 12. Oktober 1944 in Reckwitz/Sachsen geboren. Nach dem Abitur absolvierte er eine Lehre als Motorenbauer bei ROBUR in Zittau. Es folgte ein Medizinstudium an der Charité Berlin. Er promovierte über die internationalen Tendenzen der Medizinischen Hochschulbildung und wurde Facharzt für Sozialhygiene.

Elf Jahre war er im Ost-Berliner Gesundheitswesen als Facharzt tätig. Auf politischer Ebene vertrat Heinrich Niemann in den 1980er Jahren die DDR-Sektion der Internationalen Ärzteorganisation gegen den Nuklearkrieg, IPPNW.

Nach der Vereinigung fungierte Heinrich Niemann von 1992 bis 2001 als gewählter Gesundheitsdezernent in Marzahn-Hellersdorf für die PDS/DIE LINKE und war Vorsitzender der Krankenhauskonferenzen (KH Kaulsdorf, später Klinikum Hellersdorf). Er sorgte mit dafür, dass das Klinikum Hellersdorf (seit 2015 Vivantes Klinikum Kaulsdorf) als städtisches Krankenhaus erhalten blieb.

In seinem politischen Handeln folgte er der Maxime des amerikanischen Arztes und Gründers der Ärztebewegung gegen den Nuklearkrieg, Bernard Lown: „Ein profitorientiertes Gesundheitswesen ist ein Oxymoron, ein Widerspruch in sich. In dem Augenblick, in dem die Fürsorge dem Profit dient, hat sie die wahre Fürsorge verloren.“

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