Im August 2015 besuchen der Fotograf Dirk Schneider und ich Uwe und Christine Holmer im mecklenburgischen Serrahn. Vor der mittelalterlichen Backstein-Kirche mitten im Ort leuchtet ein Sonnenblumenfeld. So etwas habe ich nie vorher gesehen. Das ganze Dorf ist eine Idylle, direkt am Krakower See. Der Grund unseres Besuches ist ein Gartenbuch über Prominente in ihren Gärten, das ich schreiben will und den Pfarrer habe ich mir ausgesucht. Ich will diesen Mann kennenlernen, der so integer und mutig ist und will wissen, wie man so wird, wie er ist: ein Mensch der Nächstenliebe.
Er ist der Mann, bei dem Honecker zehn Wochen lebt. Er gewährt dem ehemaligen Staatsratsvorsitzenden Schutz, denn Honecker ist seit 1989 nirgends mehr in seiner von ihm aufgebauten, atheistischen und sozialistischen DDR sicher. Das sollten wir nie vergessen. Holmer ist ein Mann, dessen ganzes Leben auf den Glauben an Gott aufgebaut ist. Auf Bitten der Kirchenleitung in Berlin, an die sich Honeckers Anwalt Wolfgang Vogel damals richtet, soll Holmer Erich und Margot bei sich aufnehmen, da die Siedlung in Wandlitz aufgelöst wird. Honecker steht vor seiner zweiten Operation.
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In seinen Lebenserinnerungen schreibt Holmer 2009, dass zehn seiner Kinder in der DDR kein Abitur machen durften. Begründung: keine FDJ, keine Jugendweihe, Verweigerung des Wehrunterrichts. Der gemeinsamen Sache mit den Honeckers widmet er zwei Buchseiten, vielleicht, weil es etwas Selbstverständliches für ihn ist, Asylsuchenden Obdach und Schutz zu gewähren. Die Hoffnungstaler Anstalten in Lobetal sind für Obdachlose und Behinderte gemacht, Holmer ist seit 1983 deren Bürgermeister und Leiter. Am Ende stellt der von der DDR beäugte Christ dem Ehepaar Honecker die Zimmer seiner jüngsten Kinder in seinem eigenen Haus in Lobetal zur Verfügung. Margot Honecker schreibt den Holmer später jahrelang Oder- und Weihnachtskarten aus Chile.
Uwe Holmer ist heute 92 Jahre alt, schwer krank, und lebt mit seiner zweiten Frau in Serrahn. In einer Einrichtung der Kirche, die er im Ruhestand als Pfarrer betreut, wird hier seit vielen Jahren alkoholkranken Menschen geholfen. Etwa 1,3 Millionen Menschen sind in Deutschland süchtig nach Alkohol. Nächstenliebe bedeutet, Vertrauen in alle Menschen zu haben und ihnen dieses zu schenken. Man könnte es auch Mitgefühl nennen, fernab von Mitleid.
Mitgefühl glaubt an die Kraft des anderen und reicht eine Hand. Und damit ist Uwe Holmer, der in Wismar geboren ist, auch der richtige Pfarrer für ein Dorf mit alkoholkranken Menschen.
„Wenn man Menschen, auch Alkoholkranken helfen will, muss man ihnen schöne Bilder von ihrem Leben malen. Mythen und Märchen sind nix, es muss Wirklichkeit gemalt werden, damit sie entstehen kann.“
Das sind Visionen. Visionen ist gemalte Wirklichkeit und die Farben und Formen kann sich jeder selbst aussuchen und vor allem die Menschen, mit denen er das gestaltet. Normalerweise.
Pfarrer Theo Lehmann aus Dresden schreibt im Vorwort zu Holmers Biografie: „Lautere Menschen (lauter im Sinne von aussprechend) strahlen etwas aus, verbreiten eine Atmosphäre der Klarheit und Reinheit. Niemand würde wagen, in ihrer Gegenwart einen zweideutigen Witz zu erzählen. Man hat zu ihnen unbedingtes Vertrauen und weiß einfach – der belügt mich nicht, der kennt keine Tricks, der ist ehrlich.“ Ich empfehle, das Buch zu lesen oder die ARD - Dokumentation: „Der Sturz – Honeckers Ende zu sehen oder auf den Film von Jan Josef Liefers zu warten.
Unser Termin in Serrahn kommt sehr spontan zustande. Wir werden sehr gastfreundlich empfangen, gemeinsam essen wir mittags Obstknödel, danach Kaffee und Kuchen. Fast drei Stunden bleiben wir beim Ehepaar Holmer. Am meisten fasziniert mich eine Geschichte, die ich hier erzählen möchte. Denn ich fühle mich durch diese Geschichte mit den beiden sehr verbunden. Als Atheisten sind wir zu Gast bei zwei Christen. Wir sitzen zu viert auf der Terrasse am Tisch und die große Wiese, die den Holmerschen Garten vom Diakonischen Zentrum, dem Klinikgelände trennt, wird zum Thema. Die Wiese und die eigene Familie. Denn Nächstenliebe beginnt in der Familie.
Einmal im Jahr im Sommer, meist von Dienstag bis Sonntag, findet dort die Enkelkinder-Freizeit statt. Es ist mittlerweile der Höhepunkt des Jahres. Dann wird die Wiese zum Festivalgelände, auf der sich alle treffen und feiern. Es wird ein großes Zelt aufgebaut, das die Großfamilie vom Diakonischen Zentrum bekommt. Drüben an der Mauer stehen dann die Wohnwagen, denn es kommen auch Gäste mit Wohnwagen.
„Wir haben mehr als 60 Enkelkinder, meine Frau hat 12 und ich habe 49. Dazu auch schon erste Urenkel und ich kann sie ja nicht alle besuchen, sie sind überall verstreut.“
„Daher gibt es bei uns die Enkelkinder-Freizeit. Sie hält die Familie zusammen, die Cousins und Cousinen freuen sich immer aufeinander. Man entfremdet sich sonst und das wäre schade. Und unsere Familie müssen wir schützen und pflegen.“
Wie sehen dann die fünf gemeinsamen Tage aus? „Morgens ist intensive Bibelarbeit. Wir dachten immer, wir müssten auch Nachmittags- und Abendprogramm anbieten, doch meist spielen die Kinder begeistert miteinander und wir Älteren können uns intensiver austauschen. Wir müssen nur aufpassen, dass keines der Kinder beim Segeln oder Baden in Gefahr gerät.“ Wenn er dann als Großvater am Tisch seiner Kinder sitzt, muss Uwe Holmer sich auch manchmal zurückhalten, wenn ein Kind nicht ruhig ist. „Da darf ich nicht erziehen, das ist die Sache der Eltern. Sonst bevormunde ich ja meine Kinder. Es ist nicht mein Recht und auch nicht meine Pflicht. Als mein zehnter Sohn aus dem Haus an die Oberschule nach Güstrow ging, meine Frau war da gerade verstorben, fühlte ich mich befreit von der Erziehung. Erziehen ist auch eine Last.“
Wenn die Enkel nun in Serrahn sind, dann ist das etwas anderes. Dann kann der Vater von zehn Kindern mit ihnen reden, wie er möchte, dann können sie gemeinsam ihren Tagesplan machen. „Dann singen wir zusammen ein Lied oder wir beten oder wir gehen irgendwo hin. Das schafft zu den Enkelkindern ein richtig gutes Bauchgefühl. Und ein Enkelkind sagt schon mal: “Opa, Du bist schon so alt. Hoffentlich musst Du nicht bald sterben.“ Dann sage ich:
„Du, Gott hat für mich einen Platz im Himmel. Ich habe keine Angst vor dem Tod.“
Das behält das Kind sein Leben lang und das kann ihm möglicherweise einen großen inneren Frieden verschaffen und ihm Angst nehmen. Denn Ängste übertragen sich ja.“ Menschen Angst zu nehmen, auch das ist Liebe. Nächstenliebe. Mir schenkte Uwe Holmer drei Bücher: seine Biografie mit einer Widmung, ein Volksliederbuch, das ich einem Musiker aus dem Saarland weitergab, der Honeckers Schwester kannte und eine Schrift, die ich meinen Rostocker Freunden gab, die mich mit Uwe Holmer verbunden hatten. Und die beiden schenkten mir ein vor allem ein Gefühl: das Gefühl, absolut richtig zu sein.