Scheitern auf Vorrat

Oder warum Senf auch keine Lösung ist
Ein grauer verregneter Märztag. Das Kind macht sich unsichtbar, der Mann verschwindet „nur mal kurz was holen“ murmelnd aus dem Haus … Und ich habe dem Chefredakteur Texte für die Sonderausgabe versprochen. Abgabefrist: morgen. Oh je! Schreiben, wie geht das nochmal? Ist mir entfallen. Ich weiß ja auch nicht mehr, wie Kino geht oder Tanzen inmi en einer Menschenmenge. Geschweige denn wie es ist, mit anderen Nackten in der Sauna zu schwitzen. Im meinem Kopf herrscht grenzenlose Leere. Wenn es so etwas wie intrapandemische Amnesie gibt, dann habe ich die.
Mehrere Marmeladegläser in einem Lagerregal im Keller
Foto: Anke Assig
Setze spontan neue Prioritäten und gehe in den Keller. Das Regal mit den Lebensmittelvorräten sieht schlimm aus! Ein Durcheinander und dieser Staub überall. Das ist jetzt aber wirklich mal dran. Wann, wenn nicht heute? Während ich Fach für Fach ausräume, lerne ich ganz neue Seiten an meiner Familie kennen. Wieso haben wir 10 Packungen vakuumierten Rotkohl – zusätzlich zu den 3 Portionen im Glas? Außer zu Weihnachten essen wir nie Rotkohl. Welches Giga-Grillfest erfordert 12 Gläser Senf in unterschiedlichen Geschmacksrichtungen? Und wer hat eigentlich all die Dosen und Gläser mit sauren Gurken und Oliven gekauft? Wohnen hier Prepper? Ok, ich gebe zu, das 2-kg-Olivenglas, das war ich. Das hatte eine schöne Form, es war ein Sonderangebot und ich wollte es als Vase benutzen. Geht noch nicht. Wegen der vielen Oliven im Glas.
Zwischen den Konserven finde ich eine ramponierte Dose Tomatensuppe, mindestens haltbar bis 2014. Hhmm…. Wegwerfen oder das Experiment weiterlaufen lassen?
Ernährungswissenschaftler haben mal Jahrzehnte alte Konserven und eingewecktes Obst getestet. Das meiste war wohl noch…. nun ja, essbar, wenn auch nicht gerade ein Gaumenschmaus. Zumindest hatt en sich darin wohl keine neuen Lebensformen entwickelt. Und vor ein paar Jahren haben Archäologen in Jordanien 14.000 (!) Jahre alte Brotreste ausgebuddelt. Knäckebrot? Ich lasse unsere Dose zu. Schönen Gruß an Herrn Schrödingers Katze. Zukünftige Forschergenerationen werden sich freuen. Es klingelt an der Haustür. Meine Nachbarin K. möchte sich Möhren für eine Suppe leihen. Ich biete ihr bei der Gelegenheit sogleich noch sechs Kilo Rotkohl, gläserweise Senf und Zutaten zum Sauerteigmachen an. Das alles hatt e mein Mann vor dem ersten Lockdown gekauft. Sicher in der Erwartung, dass wir lange auf Selbstversorgung angewiesen sein würden. K. lehnt dankend ab und zählt ihrerseits die Pandemie-Vorräte ihres Gatt en auf. Ich sage nur: Milch, Butter, Garage, Kühlzelle. „Was machst du eigentlich im Keller?“, fragt sie die Treppe runter. „Wolltest du nicht dringend einen Text schreiben?“ „Na ja, schon. Aber guck doch mal, wie das hier aussieht!“, entgegne ich und zeige barmend auf dutzende Marmeladengläser auf dem Kellerboden. Sie lacht und verschwindet.
Abgelaufene Tomatensuppe in der Dose
Foto: Anke Assig
Marmelade ist sowas wie unser süßes Familiengedächtnis. Jedenfalls, sofern man die Aufkleber auf den Gläsern noch entziffern kann. Es gibt Vor-Corona-Marmelade und Corona-Marmelade. Zur Vor-Corona-Marmelade gehört zum Beispiel das Rosengelee, eine Erinnerung an den Ostseeurlaub 2019. Der Duft führt zu Flashbacks beim Frühstück, herrlich! Gläser mit den Aufschriften „Johannisbeere 2013“, „Birne-Quitte-Zimt 2016“ und „Traubensaft-Gelee 2019“ verdanken wir den Besuchen der Omas oder ihren Weihnachtspäckchen. Die Corona-Marmelade haben wir in großen Mengen selbst produziert, „Erdbeere Mai `20“ und „Pflaume-Erdbeere Sommer `20“. Es war ja Zeit dafür. Dann gibt es noch etliche Gläser mit gräulichem Inhalt ohne Inhalts- und Datumsangabe. Da sie auch zum Familienerbe gehören, dürfen sie unter keinen Umständen weggeworfen werden. Also staube ich sie ab und stelle sie wieder ins Regal. „Für die Forschung“, denke ich. Zwei Stunden später bin ich fertig. Fühle mich enorm produktiv. Überlege, wer Interesse an den aussortierten Chutney-Gläsern haben könnte, die ich aus unerfindlichen Gründen immer wieder geschenkt bekomme – und ob ich einen signifikanten Beitrag gegen Lebensmittelverschwendung leiste, wenn ich die Mungobohnen mit dem Mindesthaltbarkeitsdatum 2012 in ein hippes Eurasia-Fusion-Gericht auf der Basis von Rotkohl verwandle. Das könnte ich meinen Nachbarn als koreanische Spezialität anbieten. Immer nur Pasta im Homeoffice, das will doch keiner. K. ruft an, die Suppe mit meinen gespendeten Möhren ist fertig. Ob der Text… Verdammt, der Text! Mir fällt partout nicht ein, worüber ich schreiben könnte. Ich habe dafür jetzt aber auch echt keine Zeit. Das Kinderzimmer sieht schlimm aus, da muss ich dringend mal ran.

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