Nach dem, was mir in den vergangenen Monaten widerfahren war, hatte ich nicht den Wunsch, solche Veranstaltungen zu besuchen, neue Menschen kennenzulernen, mir Geschichten über ihre Arbeit und ihre Hobbys anzuhören oder in Unterhaltungen über Politik, Immobilienpreise oder die Wetterbedingungen an der westlichen Küste hineingezogen zu werden. Aber ich konnte auch keine gute Ausrede finden, wusste außerdem, dass meine Gastgeberin es mir übelnähme, wenn ich nicht käme.
Als ich eintraf, waren schon viele Leute auf der Party, ich war in jenem Moment angekommen, in dem die Gäste sich gerade zu kleinen Gruppen zusammengefunden hatten, geordnet nach Interessen, Alter oder danach, wie lange man sich schon kannte. Jemand bot mir Wein an und ich nickte, und mit dem Glas in der Hand driftete ich durch die Wohnung, mischte mich hin und wieder unter die eine oder andere Gesellschaft, lauschte den Gesprächen, brachte mich aber nicht ein. Einige Male kam die Gastgeberin zu mir, um mir zu sagen, wie sie sich freute, dass ich doch noch erschienen war, oder um mein Glas mit Rotwein zu füllen.
Nachdem ich bei jedem Grüppchen gestanden hatte, beschloss ich, mir einen ruhigeren Platz in einer Ecke zu suchen. Langweilig war mir nicht, der Wein wärmte mich, auch wenn das nicht ausreichte, um einige verbliebene Gedanken zu vertreiben, zu denen ich wirklich nicht zurückkehren wollte. In Wahrheit war der Wunsch, ihnen für einen Abend zu entkommen, einer der Gründe, warum ich mich entschlossen hatte, hier aufzukreuzen.
„Ist Ihnen auch langweilig?“
Als ich durch die Wohnung spazierte, von einem Zimmer zum anderen, kam ich in eines, das einem Arbeitszimmer oder einer kleinen Bibliothek ähnelte. Ich musterte den großen Schreibtisch, auf dem sich Papiere, Dokumente, Aufsätze und Bücherstapel türmten; ich wusste, der Ehemann meiner Gastgeberin war Schriftsteller oder Journalist oder Blogger oder etwas Ähnliches, aber ich hatte weder seine Bücher noch seine Artikel oder seinen Blog gelesen. Es hieß, er sei talentiert und sehr fleißig. Ich stimmte zu. Ich spazierte zwischen den Bücherregalen entlang, entdeckte Kafka und Borges und einen gerade angesagten norwegischen Schriftsteller, den ich auch nicht gelesen hatte, aber man sagte mir, er schreibe genial. Ich stimmte zu.
„Ist Ihnen auch langweilig?“
Ich drehte mich und sah eine junge Frau in der Tür des Arbeitszimmers stehen, die mir zuerst in der einen, einige Zeit später in einer anderen Gesellschaft aufgefallen war; offensichtlich verfolgte sie die gleiche Taktik, die Gesellschaft zu wechseln, ohne etwas Konkretes zu suchen, nur um sich die Zeit zu vertreiben.
„Sie trinken Rotwein“, sagte sie, also ob sie etwas feststellte, statt zu fragen, und ich war nicht sicher, ob sie das als etwas Positives sah oder ob das Rotweinglas in meiner Hand eine Schwäche meines Charakters darstellte.
Ich antwortete mit einem plumpen Scherz, sie lächelte still, und danach saßen wir zu zweit im Arbeitszimmer und unsere Unterhaltung gestaltete sich sehr interessant, vielleicht war das aber der Einfluss des Weins. Zweimal ging ich eine neue Flasche holen und bemerkte bald nicht mehr, wie aufmerksam, nein, wahrscheinlich schon ungehörig ich ihre Figur in dem schwarzen Kleid, ihre Schultern, ihre Fingerspitzen und Lippen musterte, während sie mir von ihrer Reise nach Budapest mit ihrem ehemaligen Verlobten erzählte. Das Wort Ex-Verlobter hörte ich sehr deutlich - vielleicht deshalb, weil sie es mit besonderer Betonung und Nachdruck aussprach, aber vielleicht existierte dieser Nachdruck nur in meinem Kopf; am heftigsten pochte der Wein darin.
„Während ich sie aufmerksam ausziehe – zuerst das schwarze Kleid, danach die einfache, aber elegante Unterwäsche –, werde ich nicht an ihren schönen Körper denken.“
Obwohl mir dieses Wort nicht aus dem Kopf ging, fragte ich sie nichts. Wie sich herausstellte, musste ich überhaupt nicht fragen, denn sie selbst hatte das dringende Bedürfnis, zu erwähnen, dass der Verlobte nun ein Ex-Verlobter war, weil er sie kurz nach der Rückkehr aus Budapest verlassen hatte, wobei er als Grund unterschiedliche Lebensentwürfe und Prioritäten angegeben hatte; ich dachte, was muss man für ein Idiot sein, um eine solche Frau zu verlassen, und was für idiotische Prioritäten muss man haben.
Ab und zu kamen Leute in unser Arbeitszimmer, das zu unserem geworden war, sie suchten etwas, fragten, ob wir diesen oder jenen Gast gesehen hätten; wir nickten und lächelten und zeigten dabei unsere roten Zähne. Wir wussten beide, wohin uns das führen würde, deswegen steuerten wir mit einem Getränk dagegen. Der Morgen kam, die Leute gingen, in der Wohnung wurde es immerfort leiser und friedlicher, die Sonne ging auf und der Zeitpunkt des Aufbruchs nahte. Schließlich standen wir vom Sofa auf, gingen ins Wohnzimmer. Im Kamin verglühten die Kohlen der vergangenen Nacht, es war leise, und genauso leise sagte sie, dass sie nach Hause gehen müsse.
Während ich im Badezimmerspiegel meine blauen Lippen betrachtete, gelang es ihr, ein Taxi zu rufen, das kurz darauf draußen wartete, und sie sagte, ich könne mitkommen bis zu mir, außerdem habe sie zu Hause noch einen halbe Flasche Wein und sie würde so oder so nicht sofort schlafen gehen; und obwohl ich an diesen Augenblick die ganze Nacht gedacht hatte, war etwas in mir geschehen, möglich, dass es das Morgenlicht durch die weißen Vorhänge war, das mich zu denselben Gedanken zurückbrachte, vor denen ich mich die gesamte Nacht erfolgreich versteckt hatte, ich wusste, ich würde weder den Mantel nehmen noch mich mit ihr ins Taxi setzen, weil ich sehr gut wusste, was als Nächstes passieren würde; mir war es schon passiert und zwar werden wir zu ihr fahren, eine Flasche Wein wird auf uns warten, die wir nicht trinken werden, weil wir uns in ihrem Bett wiederfinden, das nach einem fremden Mann riecht, und das Schlimmste ist: Während ich sie aufmerksam ausziehe – zuerst das schwarze Kleid, danach die einfache, aber elegante Unterwäsche –, werde ich nicht an ihren schönen Körper denken, sondern an einen anderen, mir viel vertrauteren; was meine Augen wollen, werden meine Hände verderben, denn die Hände erinnern sich besser als das Sehen oder das Hören; und wenn ich anfange, ihren Körper zu liebkosen, ihre Brüste berühre, langsam zu ihren Hüften wandere, werden meine Hände plötzlich taub werden und mir nicht mehr gehorchen, weil sie in diesem fremden Körper nicht das erkennen, was sie erlebt haben und wonach sie sich noch immer so sehr sehnen; und wenn sie ein wenig die Hüften heben wird, damit ich ihr das Höschen leichter herunterziehen kann, werden sich die Augen zu den Händen gesellen, weil auch sie nicht sehen werden, was sie erwartet haben; sie wissen sehr wohl, was sie sehen wollen, aber sie werden etwas völlig anderes sehen, auch der Geruch wird ein anderer sein und alle meine fünf Sinne werden sich gegen mich erheben, mein Herz wird schrumpfen und es wird eine Blamage und eine Demütigung, unbeholfenes Unverständnis und betretene Blicke geben.
Ich wusste, dass genau das passieren würde, und meine nächtliche Gesprächspartnerin las das plötzlich auch in meinem Gesichtsausdruck; vielleicht war es ihr auch schon passiert, und so wird sie sich nicht verabschieden, sondern mir einen Abschiedskuss geben und mit dem Taxi nach Hause zu ihrem Bett fahren, das von diesem vertrauten Aroma erfüllt ist, sie wird den übrig gebliebenen Wein austrinken, ein wenig weinen und auf dem Wohnzimmersofa einschlafen, denn im Bett hat sie nicht mehr geschlafen seit dem Tag, an dem ihr Verlobter sie verlassen hat.
Ich werde währenddessen der letzte Gast sein, auf den Balkon hinausgehen und eine Zigarette rauchen; meine Freundin wird zu mir kommen, mich von hinten umarmen und ihren Kopf auf meine Schulter legen, lächelnd und ein wenig den Wein ausdünstend wird sie mich fest umarmen mit beiden Armen und ohne den Kopf zu heben fragen: „Und wie geht‘s dir?“
Andris Kupriss geboren 1982, ist Autor und Übersetzer. Er studierte Journalismus an Latvijas Universitate in Riga und Fotografie an der Goldsmiths University in London. 2019 erschien in Lettland seine erste Kurzgeschichtensammlung „Berlin“. Seine Essays und Prosatexte erscheinen in diversen Literaturmagazinen, u. a. Satori und Rigas Laiks.
„Berlin.Kurzgeschichten“ erscheint am 30.11. für 22,00 € inkl. MwSt. zzgl. Versandkosten mit ca. 400 Seiten, Hardcover und Lesebändchen mit der ISBN 978-3-948052-59-1 und lässt sich hier vorbestellen.
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Restaurant Walden, Kleiner Hirschgraben 7, 60311 Frankfurt am Main