Sein oder nicht Sein?

Berlinale und Filmkunst im Friedrichshagener Freiluftkino: Der Mauretanier
Es war ein langer Winter, vielleicht der längste überhaupt. Man war ein Gefangener der eigenen vier Wände, oft wohl auch ein Gefangener der eigenen Familie, aber in jedem Fall ein Gefangener seiner selbst. Frei wird es einem um die Brust, wenn man dieser Tage durch Friedrichshagen geht und sieht, was man in seinem Corona-Kerker für tot gehalten: lebendige Sinnlichkeit, Freiheit.
Mohamedou Ould Slahi als Tahar Rahim
Mohamedou Ould Slahi als Tahar Rahim /// Foto: Tobis

Frühsommer in Friedrichshagen

Jenes wiedererwachte Freiheitsgefühl erfährt eine Potenzierung, wenn einen die Füße die Bölschestraße hinauf in Richtung Freiluftkino tragen, das ab dem 9. Juni Gastgeber der Berlinale ist, dem deutschen Festival für Filmkunst. Kunst, jenes Edelste, einzig Edele, das freien Weltenklang in lebendige Sinnlichkeit verwandelt.


Neues im Freiluftkino

Der Fluss aus munteren Gedanken und Gefühlen, wird zunächst etwas gedämmt, angesichts der sich stauenden Menschen vor den Toren des Kinos und der zahlreichen Infektionsschutzmaßnahmen, die ihre Umstände machen. Jedoch ist das nichts, was mit einem Getränk aus dem Kino-Bistro (der Autor kann hier den Rotwein des Hauses empfehlen), nicht schon vergessen wäre, sobald man seinen Platz im Theater eingenommen und die Maske abgenommen hat.

Auch wird man spätestens jetzt, da einem die seicht untermalenden und zugleich kräftigen Swingtöne in die Ohren und der leichte Geruch von Holzspänen und Lasur durch die Nase geht, der Änderungen gewahr, die in der langen Pause im Freiluftkino vorgenommen wurden: Es gibt neue Lautsprecher, die einen umfangreichen und klaren Sound geben und, wie gemunkelt wird, die Power hätten, um auch die Menschen in Adlershof wissen zu lassen, wenn mal wieder Haialarm im Müggelsee ist. Außerdem sind die meisten Bänke komplett neu gemacht und nun auch mit Sitzplatznummern versehen.

Nicht eher als bis jeder den mit seiner Nummer versehenen Platz gefunden hat, etwas mehr als eine halbe Stunde nach offiziellem Start, fängt die Vorstellung an. Ein Mann tritt auf die Bühne, heißt das Publikum willkommen. Es folgt eine Rede, die weder viel sagt, noch durch ihre Vortragsweise sonderlich mitreißt. Doch im Kern erfüllt sie ihren Zweck; sie teilt mit, dass der anstehende Film „The Mauretanien“ heißt, auf wahren Begebenheiten beruht und der Regisseur der britische Oscarpreisträger Kevin Mcdonald ist. Der größte Vorzug der Rede? Sie nimmt den Platz der Werbung ein.


Der Film

Wir befinden uns wenige Monate nach 9/11. Die erste Szene des Films spielt am Rande einer Hochzeit in Mauretanien. Es wird Arabisch geredet. Mohamedou Ould Slahi, gespielt von Tahar Rahim, wird von unbekannten Agenten angesprochen. Sie beschuldigen ihn, er habe die Anschläge vom 11. September mitorganisiert. Hat er? „Hat er nicht!“, sagt sein Blick, welcher der eines Mannes ist, der die Wahrheit auf seiner Seite weiß. Er zieht sich noch schnell um: „Sonst halten die mich noch für einen Prinzen.“ Dann steigt er in sein Auto und folgt den Agenten, um dem Sachverhalt zur Klärung zu verhelfen, scheinbar frei.

Aufsteller zur 71. Berlinale
Foto: Friedrich Piethe

Doch es wird trübe. Ein Wo und Wann ist erst wieder auszumachen, als der Film uns die in Albuquerque, New Mexico, ansässige Bürgerrechtsanwältin Nancy Hollander (Jodie Foster) vorstellt. Sie erfährt von einem Mauretanier, der seit drei Jahren in seiner Heimat vermisst wird und vom dem man munkelt, er könne in Guantanamo gefangen gehalten werden. Doch es ist nur ein Gerücht. Was weiß man wirklich? Wenn man nicht fragt, sehr wenig.

Aber Hollander fragt; fragt und findet Antworten. Ja, der Mann ist in Guantanamo Bay. Sein Name ist Mohamdou Ould Slahi und nein, er wurde nicht rechtskräftig verurteilt. Wie auch? Schließlich hat er nie den Boden des land of the free betreten. Welch findiger Winkelzug von der Bush-Administration, das Kriegsgefangenenlager auf einer Insel, fernab der amerikanischen Gerichtsbarkeit zu installieren! Doch der Supreme Court schreitet ein und sagt: Prozess muss sein, auch für Guantanamo-Häftlinge.

Denn will die Anwältin aus ihrer Unwissenheit ausbrechen und wissen, dass sie ein Monstrum verteidigt?

Der Fall Slahi ist für das amerikanische Verteidigungsministerium von höchstem Interesse und so stellt es eine Anklage auf. Führer der Anklage gegen Mohamedou: Benedict Cumberbatch (Lt. Col Stuart Couch). Das Verteidigungsministerium ist überzeugt, dass er der richtige Mann ist, das anvisierte Ziel zu erreichen: Verurteilung, Todesstrafe. Cumberbatch hat eine entscheidende Motivation: Ein Kamerad, ein enger Freund starb bei den Anschlägen des 11. September.


Sein oder nicht Sein?

Beide Seiten, die Verteidigung und die Anklage, verfangen sich in der Folge in einem Labyrinth aus Verhörprotokollen. Was kann man glauben, was nicht? Ist das Geständnis wahr? Ist es falsch, durch Folter erpresst? Sein oder nicht sein, das könnte die Frage sein in „The Mauretanien“, denn faul ist definitiv etwas in den Vereinigten Staaten von Amerika.

Aber der Film erzählt nicht von den Qualen, die der Ankläger und die Verteidigerin leiden, weil sie nicht mehr wissen wollen, wiewohl sie es müssen. Denn will die Anwältin aus ihrer Unwissenheit ausbrechen und wissen, dass sie ein Monstrum verteidigt? Darf der Ankläger wissen, dass seine Rache den Falschen trifft? Doch steht hier weder ein Prinz (Ist er nicht doch Prinz?) im Mittelpunkt, noch bewegen wir uns in Dänemark. Gibt der Stoff aber einen Hamlet her? Ja, mit Sicherheit. Und wer ihn sucht, findet ihn auch, wenngleich der Film selbst die Erzählung nicht aktiv aufnimmt.

Darf der Ankläger wissen, dass seine Rache den Falschen trifft?

Man kann mit leichter Bedrückung zur Kenntnis nehmen, dass der Film einen anderen Weg einschlägt. Er geht ins Dokumentarische, vermeidet es, jene psychologische Hamlet-Ebene zu erzählen und stellt das körperliche und seelische Leid eines Häftlings in Guantanamo dafür schonungslos dar. Daneben erzählt er die Geschichte der kämpferischen Anwältin, die in ihrem Kampf für das Recht nie bereit ist zurückzustecken. Handwerklich setzt Mcdonald das meisterlich um, auch weil das Dokumentarische des Films dem Naturell seines Regisseurs vollständig entspricht. Nicht umsonst gewann Mcdonald mit dem Dokumentarfilm „Ein Tag im Juni“ seinen Oscar. Es ließe sich natürlich auch so wenden, dass der Stoff im Naturell seines Regisseurs gefangen ist und so sein volles Potential im Film nicht entfalten kann.


Ein gelungener Abend

Vollkommen ist  „The Mauretanien“ nicht. Am Ende schmerzt die ausgelassene Chance einen Hamlet in Mauretanien zu finden, zu sehr. Auch kann man es als Makel sehen, dass der Film es verpasst, damit zu spielen, dass mit Lt. Col Stuart Couch hier der Darsteller des BBC-Holmes in den Verhörprotokollen wühlt. Doch dass er sich von der psychologischen Fragestellung, die der Stoff ermöglicht, abwendet und das Thema auf einer politischen Ebene behandelt, ist durchaus legitim, nein es ist sogar notwendig. Schließlich ist das nachgefragt und die Gage für Stuart Couch, Foster und Co. will bezahlt sein.

„The Mauretanien“ ist ein sehr starker Film.

Letztendlich kann man sich von seinem Platz erheben und leise den Kopf vor der Leinwand neigen, denn, fürwahr, „The Mauretanien“ ist ein sehr starker Film. Man kann zufrieden den Weg nach Hause antreten und gewiss sein, dass man den Abend mit guter Kunst, ja dass man diesen Friedrichshagener Frühsommerabend fast so gut wie möglich verbracht hat, wissend, dass im Freiluftkino Friedrichshagen, zumindest bis zum 20. Juni, wenn die Berlinale endet, sich Freiheit und Leben in höchstem Glanze verschmelzen und Kunst werden.


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