Das neue Berliner S-Bahn-Experiment

Ausverkauf oder Qualitätsoffensive?
Erstveröffentlichung am 26. Mai 2020
Mit einer der größten Ausschreibungen in der bundesdeutschen Verkehrsgeschichte will der rot-rot-grüne Senat stabile Qualität auf die Schiene bringen. Kritiker sprechen vom „Ausverkauf der S-Bahn“ und fürchten Chaos und schlechte Arbeitsbedingungen
Das grüne Zeichen der Berliner S-Bahn vorm dämmernden Abendhimmel
Foto: Berlinpaul25 via Flickr
Lange wurde gestritten und diskutiert, erst mit dem Nachbarland Brandenburg und bis zuletzt auch innerhalb der rot-rot-grünen Koalition. Doch jetzt ist im Senat die Richtung klar für den künftigen S-Bahn-Verkehr in Berlin: Zwei Drittel des Netzes, konkret die Stadtbahn von Ost nach West und die Nord-Süd-Strecke, werden europaweit ausgeschrieben. Der Senat, so Verkehrssenatorin Regine Günther (Grüne), verspreche sich davon eine stabile Qualität auf der Schiene. Es werde ein neues Kapitel für den Nahverkehr in der Metropolenregion Berlin aufgeschlagen. Und das ist tatsächlich so. Es ist eine der größten Ausschreibungen in der bundesdeutschen Verkehrsgeschichte überhaupt und nicht weniger als ein Paradigmenwechsel in der Berliner Verkehrspolitik. Doch die Ausschreibung im Umfang von rund acht Milliarden Euro ist auch ein Experiment mit ungewissem Ausgang. Ob es erfolgreich sein wird, liegt größtenteils an der Fähigkeit der Politik zu Koordination und Effizienz. Zwei Eigenschaften, für die Berlin bislang nicht gerade berühmt ist. Man denke nur an die schlechte Koordination und die schlampigen Arbeiten unter Staatsregie sowie die daraus resultierenden immens hohen Kosten beim BER sowie an weitere Großprojekte wie die Staatsoper-Sanierung, die zeit- und kostenmäßig aus dem Ruder gelaufen sind.

Neun Bewerbungsmöglichkeiten, ein landeseigener Fahrzeugpool

Für die beiden S-Bahn-Teilstrecken sollen jedenfalls Unternehmen gefunden werden, die von 2027 an mehr als 1.300 neue S-Bahn-Waggons funktionstüchtig bereitstellen und betreiben. Wobei es ganz unterschiedliche Unternehmen sein können, denn Betrieb und Wartung können von verschiedenen Anbietern erfolgen. Es gibt mehrere verschiedene Bewerbungsmöglichkeiten, was schon daraufhin deutet, mit welchem Koordinierungsgeschick unterschiedliche Akteure zusammengeführt werden müssen, damit schlussendlich alles zusammenpasst. Wer die verschiedenen Schnittstellen koordinieren soll, bleibt indes offen. Mit den kleinteiligen Ausschreibungen will der Senat verhindern, dass sich nur Großunternehmen bewerben und damit für den künftigen Verkehr in und um Berlin wie bisher Monopolpreise gelten. Das derzeitige S-Bahn-Netz, das sich zu zehn Prozent bis nach Brandenburg erstreckt, wird komplett von der Tochter der Deutschen Bahn AG, der S-Bahn Berlin GmbH, betrieben. Die Folge: ein hoher Preis, von fast neun Prozent Rendite bei der S-Bahn GmbH ist die Rede. Marktüblich sind laut Experten drei bis vier Prozent. Erstmals wird das Land den Kauf der gut 1.300 neuen Waggons, von denen einige bereits auf verschiedenen Strecken getestet werden, selbst finanzieren und so einen eigenen Fahrzeugpool bilden. Die Züge sollen dann als Landeseigentum im Rahmen einer öffentlich-privaten Partnerschaft (ÖPP) den neuen Betreibern zur Nutzung überlassen werden. Das ist eine weitere Neuerung zu bisherigen Ausschreibungen: Anders als bisher muss jetzt ein Unternehmen, das Züge fahren will, diese nicht mehr selbst mitbringen. Und: Betrieb und Wartung der S-Bahnen können getrennt vergeben werden. Bieter können sich nur für eines von insgesamt vier Losen (Fahrbetrieb und Instandhaltung auf den jeweils zwei Teilstrecken) bewerben – oder auch gleichzeitig für alle vier. Mit dem richtigen Zuschnitt, so haben die Länder Berlin und Brandenburg sich ausrechnen lassen, könnte über die angestrebte Vertragslaufzeit von 15 Jahren viel Geld gespart werden: Von bis zu einer Milliarde Euro ist die Rede. Geld, das etwa für die Bestellung weiterer moderner Waggons verwendet werden könne.
Ob diese Rechnung aufgeht, ist ungewiss.

Weitere Krise wie 2009 verhindern

Die Gründung der landeseigenen Fahrzeugflotte soll aber vor allem verhindern, dass es noch einmal zu einer Krise wie im Jahr 2009 kommt: Damals hatte die Bahn AG durch Sparmaßnahmen das Wagenmaterial auf Verschleiß gefahren. Massive Zugausfälle, Chaos und genervte Fahrgäste waren die Folge. Weil das Eisenbahn-Bundesamt zeitweise bis zu drei Viertel der S-Bahn-Flotte wegen Wartungs- und Technikmängeln aus dem Verkehr gezogen hatte, gab es teilweise nur ein extrem ausgedünntes Fahrangebot. Hauptgrund war, dass die DB im Zeichen des geplanten Börsengangs auch bei der Berliner S-Bahn GmbH in den Werkstätten massiv gespart hatte. Nur mühsam konnten die Werkstatt-Kapazitäten in den Folgejahren wieder aufgebaut werden. Die Lehre aus der Krise für die Politik: Der S-Bahn-Verkehr müsse ausgeschrieben werden, und zwar so, dass möglichst viele Firmen teilnehmen und Angebote abgeben. Mehr Wettbewerb gleich mehr Qualität, so die Argumentation. Bei der Ringbahn gelang dies noch nicht. Vor fünf Jahren , noch unter dem rot-schwarzen Senat, blieb die DB als einziger Bieter übrig.

Kritiker fürchten hohe Kosten

Echter Wettbewerb ist laut Expertenmeinung aber nur möglich, wenn auch neue S-Bahn-Werkstätten für die neuen Betreiber gebaut werden. Denn die DB, die mit hoher Wahrscheinlichkeit mitbieten wird, hat bereits angedeutet, dass sie ihre Werkstätten der Konkurrenz nicht zur Verfügung stellen wird. Ein Grundstück in Pankow, unweit der Schönerlinder Straße, ist für eine der benötigten neuen Werkstätten vorgesehen. Doch der Bau von Werkstätten kostet Geld, viel Geld. Hunderte Millionen Euro aus Steuermitteln, so befürchten Kritiker, müssten dafür aufgewendet werden, plus neuer Gleisverbindungen, um von der Strecke zur Werkstatt zu kommen. Bis vor kurzem waren die Werkstätten auch der Knackpunkt im Streit zwischen Berlin und Brandenburg. Ursprünglich war angedacht, dass für jeden Bieter eine eigene Werkstatt errichtet werden muss. Für den Fall, dass sich die DB durchsetzt, hätte sie eine ihrer eigenen Werkstätten schließen müssen. Die neue Brandenburger Regierung sperrte sich aber gegen diesen „Unsinn“, wie es hieß. Nun ist vorgesehen, mindestens einen neuen Werkstattstandort pro Teilnetz zu entwickeln. Als Option, nicht mehr als Muss.

Spezialität Berliner S-Bahn

Die Berliner S-Bahn weist technisch gesehen einige Besonderheiten auf. Sie ist quasi ein Unikat, so dass sie nicht mit Wagen aus anderern Regionen befahren werden kann. Anstatt mit dem sonst üblichen Wechselstrom aus einer Oberleitung werden die Züge mit Gleichstrom aus einer Stromschiene versorgt. Zudem gibt es Zugsicherungssysteme, die nicht kompatibel sind mit anderen Systemen. Schließlich ist die Bahnsteighöhe bei der S-Bahn Berlin mit 96 bis 103 Zentimetern höher als bei Regional- und Fernbahnen (55 bis 76 Zentimeter). Die bei der S-Bahn Berlin eingesetzten Fahrzeuge sind also Spezialanfertigungen. Dieser Aspekt, die hohe städtische Bedeutung der S-Bahn sowie die seit Jahren beständige Weigerung der Deutschen Bahn AG, die S-Bahn an das Land zu verkaufen, macht die Ausschreibung deutlich schwieriger als etwa bei Regionalbahnen. Wobei: Juristisch gesehen gilt auch die S-Bahn Berlin als Regionalbahn – wobei sie mit rund 400 Millionen Fahrgästen mehr Menschen befördert als etwa die Regionalbahnen in Nordrhein-Westfalen (rund 300 Millionen Fahrgäste). Jens Wiesecke vom Berliner Fahrgastverband bezeichnet die S-Bahn Berlin als „Goldesel“ der Deutschen Bahn, weil damit „so richtig viel Geld“ gemacht werden könne. Deshalb sei es notwendig, künftig eine wirtschaftliche und technische Unabhängigkeit in der Beförderung zu erreichen. Ob das mit der Ausschreibung möglich ist? Wiesecke:
„Entscheidend wird sein, wie die Bewerber mit möglichen Einschränkungen umgehen werden.“

Linke: Grüne waren Treiber der Privatisierung

Damit meint er, wie ernst der Senat die soziale Komponente in die Ausschreibung aufnimmt. Um die künftigen Arbeitsbedingungen der S-Bahn-Mitarbeiter, hatte es bis zuletzt erbitterten Streit im Senat gegeben. Vor allem die Linke – unterstützt von den Gewerkschaften EVG und GDL – drängte auf gleichwertige Sozial- und Arbeitsstandards wie bei der heutigen S-Bahn GmbH. Am liebsten wäre ihr die Fortsetzung des aktuellen Haustarifs bei den neuen Betreibern gewesen, was Juristen der Verkehrssenatorin aber als nicht realistisch für internationale Ausschreibungen ansahen. Jetzt heißt es in der Ausschreibung, die künftigen Betreiber müssten die aktuell geltenden Tarife der Gewerkschaften EVG und GDL verbindlich übernehmen. Eigentlich waren die Linken – als einzige Partei im Senat – strikt gegen die Ausschreibung. Ähnlich wie weitere Kritiker sehen sie darin eine schädliche Privatisierung und Zerschlagung der S-Bahn. Grundsätzlich wäre die Übernahme durch das Land Berlin die beste Lösung, sagt die Linken-Abgeordnete Katalin Gennburg. Aber diese Rekommunalisierung sei leider nicht möglich. Denn die DB sei nicht bereit, die S-Bahn GmbH an das Land zu verkaufen. Um dies zu erreichen, wäre ein entsprechender Druck aus der Bundesregierung als Gesellschafterin der DB erforderlich. Doch dieser Druck sei nicht wahrnehmbar, so Gennburg. Derzeit stünden einer Kommunalisierung auch Bundesgesetze entgegen; so schreibe das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkung eine Ausschreibung zwingend vor. Seit Jahren versuche man, das zu ändern, aber, so Gennburg:
„Wir haben es in der Bundesregierung mit dem schlimmsten Verkehrsminister aller Zeiten zu tun, da bewegt sich absolut nichts.“
Dennoch hätten SPD und Linke gegen die ursprüngliche Intention der Grünen, die die „Treiber der S-Bahn-Privatisierung“ seien, Verbesserungen rausgeholt. Gennburg: „Die Werkstätten sind jetzt nicht mehr zwingend vorgeschrieben, und die ursprünglich geplante getrennte Ausschreibung der beiden Teilnetze sowie von Betrieb und Instandhaltung ist auch vom Tisch.“ Jetzt sei auch ein Gesamtangebot für beide Teilnetze und integriert für Fahrzeugbeschaffung, Instandhaltung und Betrieb möglich. Die zweitliebste Lösung der Linken: Wenn schon keine Kommunalisierung, dann wenigstens keine Zerschlagung der S-Bahn, sondern weiter alles aus einer Hand. Die erzwungenen Änderungen durch die Linken- Arbeitssenatorin Elke Breitenbach sollen nun in einer Protokollnotiz zum Senatsbeschluss verewigt. Was so ähnlich klingt wie: Wir waren zwar dagegen, konnten es aber nicht verhindern. Senatorin Elke Breitenbach sagt jetzt: „Es freut mich, dass der Senat sich auf wesentliche Punkte zum Arbeitnehmerschutz verständigt hat.“ Es gebe jetzt klare Regelungen zum Personalübergang, zur Tariftreue, zum Mindestlohn und zur Ausbildungsverpflichtung sowohl für den Fahrbetrieb als auch für das Werkstattpersonal. Sie, so Breitenbach, werde im weiteren Verfahren darauf achten, dass diese Festlegungen auch umgesetzt werden, denn: „Zu einer guten S-Bahn gehören nicht nur ein moderner Fahrzeugpool und leistungsfähige Werkstätten, sondern auch gute Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten.“

Proteste am „Tag X“ angekündigt

Indes haben das Netzwerk „Bahn für Alle“ und „Gemeingut in BürgerInnenhand“ (GiB) Proteste gegen die Privatisierung der S-Bahn angekündigt. Eine Vergabe an Private sei immer mit enormen Risiken verbunden, heißt es. Der Infrastrukurexperte Carl Waßmuth, der sich in der GiB für eine Demokratisierung der öffentlichen Daseinsvorsorge einsetzt, ist entsetzt über die Berliner Ausschreibung:
„Das Projekt, wie es geplant ist, ist blödsinnig.“
Denn das Land Berlin kaufe die Wagen, um sie dann sofort in die Hand des privaten Betreibers abzugeben. Dieser behalte die Wagen für 30 Jahre und gebe sie dann kaputt an Berlin zurück. Eine solche öffentlich-private Partnerschaft, so Waßmuth, ende immer in enorm teuren Schattenhaushalten, was man beispielsweise bei der Elbphilharmonie in Hamburg gesehen habe. Privatisierung der öffentlichen Daseinsvorsorge sei immer von Übel, was derzeit auch in Baden-Württemberg zu besichtigen sei. Dort hatte das britische Unternehmen Go-Ahead die Ausschreibung für die Frankenbahn zwischen Stuttgart, Heilbronn und Würzburg gewonnen. Nur fünf Monate später muss jetzt die Landesregierung zurückrudern: Weil der neue Anbieter wegen Zugausfällen, überfüllten Zügen, Wagen- und Personalmangels und häufiger technischer Störungen massiv in der Kritik steht, wird die wichtige Strecke jetzt kurzfristig neu ausgeschrieben. Waßmuth kündigte Proteste gegen die Zerschlagung der Berliner S-Bahn an. Das Bündnis „Eine S-Bahn für Alle“, zu dem auch die Gewerkschaften EVG, GDL, der DGB und Verdi sowie Teile der Linken und der Grünen sowie Umweltverbände wie der BUND zählen, bereiteten sich auf den „Tag X“ vor. Dieser Tag steht für die Veröffentlichung und damit für den offiziellen Beginn der Ausschreibung. Waßmuth: „Es kann ja sein, dass sich Rot-Rot-Grün in Berlin denkt, im Schatten von Corona die undemokratische Privatisierung durchsetzen zu können. Da täuschen sie sich.“ Dem Senat könnten also unruhige Zeiten bevorstehen.
Die Nord-Süd-Strecke umfasst folgende Linien: S1 (Wannsee-Oran ienburg); S2 (Blankenfelde-Bernau, geplant ist die Verlängerung nach Rangsdorf); S25 (Teltow-Stadt-Hennigsdorf); S26 (Teltow-Stadt-Waidmannslust); S8 (Zeuthen-Birkenwerder)

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