Für die Moralapostel war die Sache klar: Wir alle teilen uns diesen Planeten und müssen irgendwie mit einander auskommen. Das geht nur mit klaren Regeln, die auf Rücksicht und Mitgefühl basieren. Wer sich darüber hinwegsetzt, ist eine Gefahr für jede Gemeinschaft. Doch die Arschlöcher kritisierten, dass diese Regeln vor allem die Interessen der Moralapostel vertraten. Eine bessere Welt verdient diesen Namen nur, wenn sie auch die Ansprüche der Arschlöcher berücksichtigt. Sie sahen sich nämlich durchaus als nützliche Triebfeder des Fortschritts. Denn ohne Leistungsdruck keine Leistung.
Zu viele Regeln erzeugen Mittelmaß und Stagnation. Kurz: Die Arschlöcher wünschten sich eine Welt ohne Moralapostel und umgekehrt. Ständig kam es zu Konflikten, doch keine Seite konnte die andere wirklich besiegen. Zwar war jedes Arschloch dreimal stärker als ein Moralapostel. Doch Letztere konnten sich besser koordinieren und so als starke Gemeinschaft punkten. Irgendwann kam einer auf die glorreiche Idee, den Planeten in zwei gleich große Länder aufzuteilen. Das ist natürlich ein Riesenaufwand und scheint nicht wirklich durchführbar. Doch sie haben es tatsächlich durchgezogen. Denn mit der Aussicht auf ein Leben unter ihresgleichen nahmen viele die Strapazen gern in Kauf. Eigentlich hätte jetzt alles ganz einfach funktionieren sollen. Die Arschlöcher müssen sich nicht mehr an nervige Vorschriften halten, es gilt das Recht des Stärkeren. Und die Moralapostel müssen ihre Regeln nicht mehr vehement durchsetzen, weil sich eh jeder vonganzem Herzen daran hält.
Doch leider wurde keine der beiden Seiten auf Dauer glücklich damit. Die Arschlöcher mussten feststellen, dass selbst die größten von ihnen nicht ausschließlich von Arschlöchern umgeben sein wollen. Jeder durchlebt mal Phasen, wo er müde, krank und schwach ist. Und dann ist es sehr deprimierend, wenn alle nur darauf warten, dich aus dem Rennen zu schubsen. Die Moralapostel dagegen litten an einer gewissen Farblosigkeit ihrer perfekten Welt. Und manch einer wünschte sich insgeheim, dass mal wieder jemand ausbricht und verrückte Dinge tut, über die dann alle reden. Und es gab noch etwas: Während das Leben im kleinen Rahmen tadellos funktionierte, gingen die Vorstellungen bezüglich der globalen Zukunft weit auseinander.
Plötzlich war sehr oft gar nicht mehr so einfach zu bestimmen, was „für alle“ gut ist. Und die gewählten Obermoralapostel schauten mit einer gewissen Portion Neid auf die Arschloch-Welt, in der „richtig“ und „falsch“ so einfach, natürlich und klar auf der Hand lagen. Für ein Arschloch ist richtig, was ihm selber nützt. Im besten Fall nützt er damit auch der Gemeinschaft, weil durch die harte Konkurrenz jeder zu Höchstleistungen angestachelt wird. Und: Macht ein Arschloch einen fatalen Fehler, ist nur er selbst der Leidtragende. Trifft ein Moralapostel eine falsche Entscheidung, schadet er ALLEN!
Also dauerte es nicht lange, bis sich Moralapostel und Arschlöcher wieder genüsslich auf den Planeten verteilten, um sich gegenseitig auf die Ketten zu gehen. Denn man darf eines nicht vergessen: Nicht alle Arschlöcher waren stark, und nicht alle Moralapostelschwach. Und nur in einer gemischten Gesellschaft waren die schwachen Arschlöcher nicht automatisch die Verlierer, da sie wenigstens die Moralapostel übertrumpfen konnten, die ja durch ihr selbst auferlegtes Mitgefühl immer ein wenig im Nachteil waren. Und nur in einer zumindest ansatzweise arschlochkompatiblen Gesellschaft waren die starken Moralapostel nicht ausschließlich in der Geberrolle.
Die ultimativen Gewinner des neu organisierten Zusammenlebens war am Ende eine kleine Gruppe schwacher Arschlöcher, die sich als Moralapostel verkleidet hatten.
Von Morallöchern und Arschaposteln
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